Kwame Opoku: Nofretete im Griff der Absurditäten - Wie oft müssen Ägypter noch um die Rückgabe der ägyptischen Königin Nofretete bitten?
Wie oft müssen Ägypter noch um die Rückgabe der ägyptischen Königin Nofretete bitten? Kwame Opoku über die imperialistische Argumentation der deutschen Regierung in der Debatte um die Rückgabe eines afrikanischen Kulturgutes. Übersetzt von Moses März
“Andererseits bliebe das Berliner Museum auch nach Abgabe der farbenprächtigen Nofretete-Büste an Fülle und künstlerischem Wert der Kunstwerke aus der Amarnazeit allen übrigen Sammlungen, einschließlich Kairo, überlegen. Und unter unserem Bestande gibt es so manches Stück, das künstlerisch von höherem Range ist als die elegante farbenprächtige Büste der Königin.” James Simon, 28. Juni 1930
Das neueste Argument für die Einbehaltung der Nofretete zeigt wieder einmal, dass die derzeitigen Besitzer von Kulturgütern anderer Völker keinen einzigen legitimen Grund haben, diese bis heute ihrer kultureller Symbole vorzuenthalten. Es ist seit langem offensichtlich, dass weder im Kommunal-, noch im internationalen Recht die Erfordernis festgeschrieben ist, dass die ursprünglichen Eigentümer von geplünderten oder unter zweifelhaften Umständen erworbenen Objekten formell oder informell die Rückkehr dieser Objekte beantragen müssen, bevor die derzeitigen Inhaber sie zurückgeben können. Es ist vielmehr völlig ausreichend, dass die aktuellen Inhaber der Kulturgüter über die Position der rechtmäßigen Besitzer informiert sind, um zu im Sinne einer Rückgabe der Objekte zu handeln.
Resolutionen der Vereinten Nationen und der UNESCO, mehrere internationale Konferenzen sowie die ethischen Richtlinien des Nationalkomitees des Internationalen Museumsrates (ICOM) fordern die derzeitigen Inhaber von Kunstobjekten anderer Kulturen dazu auf, in Verhandlungen über deren eventuelle Rücksendung selbst die Initiative zu ergreifen. In vielen Fällen haben schließlich nur sie die volle Kenntnis über den Ort und den Zustand der Objekte. Der Ethik-Kodex des ICOM fordert dementsprechend im sechsten Paragraph folgendes:
6.1 Zusammenarbeit
Museen sollen den Austausch von Wissen, Dokumenten und Sammlungen mit Museen und Kulturorganisationen in deren Herkunftsländern und -gemeinschaften fördern. Die Möglichkeit des Aufbaus von Partnerschaften mit Museen in Ländern oder Gebieten, die einen bedeutenden Teil ihres Erbes verloren haben, ist zu prüfen.
6.2 Rückgabe von Kulturgütern
Museen sollen bereit sein, in einen Dialog bezüglich der Rückgabe von Kulturgütern an ihre Herkunftsländer oder -völker zu treten. Der Dialog sollte unparteiisch und auf der Basis wissenschaftlicher, professioneller und humanitärer Prinzipien sowie unter Berücksichtigung lokaler, nationaler und internationaler Gesetze geführt werden. Diese Vorgehensweise ist Maßnahmen auf politischer oder Regierungsebene vorzuziehen.
6.3 Rückführung von Kulturgütern
Wenn ein Herkunftsland oder -volk die Rückgabe eines Objekts oder Gegenstandes erbittet, von dem belegbar ist, dass es/er unter Verletzung der Prinzipien internationaler und nationaler Abkommen exportiert oder auf anderem Wege übereignet wurde und es/er zum kulturellen oder natürlichen Erbe dieses Landes oder Volkes gehört, sollte das betroffene Museum umgehend verantwortungsvolle Schritte einleiten, um bei der Rückgabe zu kooperieren, sofern es rechtlich dazu befugt ist.
Daraus folgt, dass es gegen die Grundsätze des ICOM Ethik-Kodex ist, wenn ein Museum, anstatt sich ernsthaft mit dem Antrag auf Rückerstattung auseinanderzusetzen, aus der Forderung eine politische Angelegenheit werden lässt. Darüber hinaus konstatierte die internationale Konferenz über die „Rückkehr der Kulturgüter in die Länder ihrer Herkunft“ in Athen im März 2008:
„Aufforderungen und Verhandlungen über die Rückgabe von Kulturgütern können als Vehikel für Zusammenarbeit, Austausch, gemeinsame Forschung und Wirtschaftsförderung dienen. In den letzten Jahren wurde eine klare Tendenz hin zu der Rückgabe von Kulturgütern in ihre Herkunftsländer auf rechtlicher, sozialer und ethischer Grundlage entwickelt. Die Rückgabe von Kulturgütern steht in direktem Zusammenhang mit den Rechten der Menschheit (Bewahrung kultureller Identität und Erhaltung des Welterbes).
Museen werden dazu aufgefordert, ethische Verhaltenskodizes einzuhalten. Auf dieser Grundlage sollten Museen dazu bereit sein, Dialoge für die Rückkehr wichtigen kulturellen Eigentums in das Land oder in die Ursprungsgemeinschaft zu initiieren. Dies sollte im Einklang mit ethischen, wissenschaftlichen und humanitären Prinzipien durchgeführt werden. Die Zusammenarbeit, Partnerschaft, das Wohlwollen und die gegenseitige Wertschätzung zwischen den betroffenen Parteien könnten zu gemeinsamen Forschungsprogrammen und dem Austausch von technischem Know-how führen.“
Es ist folglich entweder einem Gedächtnisverlust geschuldet oder aber ein mutwilliger Versuch der Verschleierung von Fakten und eine bewusste Irreführung Dritter, wenn auf Ägyptens wiederholte Anfrage bezüglich einer Rückkehr der Nofretet so reagiert wird, als wäre es das erste Mal, dass dies geschehe. Ägypten fordert jedoch schon seit knapp 100 Jahren die Rückkehr der königlichen Büste. Die ägyptische Seite kann also nicht dazu verpflichtet werden, einen erneuten formalen Antrag für die Rückführung der Nofretete in ihr Herkunftsland zu stellen.
Um der Argumentation willen können wir trotzdem fragen, wie eine solche „formale Anforderung“ in diesem Fall auszusehen hätte. Für die meisten von uns wäre ein Brief der ägyptischen Botschaft in Berlin, von einem ägyptischen Minister, einem stellvertretenden Minister für Kultur oder aber das Schreiben eines ägyptischen Beamten, der mit dem Thema der Rückforderung antiquarer Kunstobjekte betraut ist, an das deutsche Außenministerium oder an ein deutsches Museum, hier an das Neue Museum, ausreichend formal. Es wurde jetzt allerdings davon berichtet, dass ein Antrag von Zahi Hawass, dem Generalsekretär des ‚Obersten Rates für Altertümer der Republik Ägypten‘ vom deutschen Auswärtigen Amt als nicht ausreichend formal bezeichnet wurde. Auf deutscher Seite wurde damit argumentiert, dass das Schreiben an den Präsidenten der ‚Stiftung Preußischer Kulturbesitz‘, Hermann Parzinger, adressiert gewesen sei und nicht an die deutsche Regierung: „Es ist keine offizielle Rückgabebitte des ägyptischen Staates an die Bundesrepublik Deutschland. Eine solche Rückgabebitte müsste von Regierung an Regierung gerichtet werden“, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Andreas Peschke, als Reaktion auf das Schreiben von Zahi Hawass. Argumentiert wurde außerdem, dass der Brief nicht vom ägyptischen Kulturminister, sondern lediglich von seinem Vize-Minister sei. Zudem sei der Brief weder vom ägyptischen Premierminister, noch vom ägyptischen Kabinett unterschrieben worden. Ist das wirklich ernst gemeint?
Ist die neu verordnete zusätzliche Formalität nun ein Zeichen der Verzweiflung oder vielmehr ein Teil der üblichen Verzögerungstaktik auf offizieller deutscher Seite? Wird hier etwa versucht, den Ägyptern vorzuschreiben, wer genau sich um die Rückgabeanträge zu kümmern habe? Zahi Hawass macht es den Deutschen dabei zweifellos nicht leicht, da der Archäologe ein anerkannter Experte auf seinem Gebiet ist. Hat man außerdem je von einem Fall gehört, bei dem der Premierminister und das Kabinett dafür zuständig sind, offizielle Rückgabebitten zu unterschreiben? Müssen wir uns bald auch noch anhören, dass die Ägypter nicht den richtigen Briefkopf oder das richtige Briefpapier für ein förmliches Schreiben verwendet haben? Oder dass sie das Schreiben nicht an den richtigen Empfänger geschickt haben? Die Variationen derartiger Argumente sind unendlich. Es scheint, als sei für viele westliche Museen und deren Regierungen kein Argument zu schwach, um die prinzipielle Einbehaltung afrikanischer Kulturgüter zu rechtfertigen. Argumente, die in anderen Fällen die Intelligenz gebildeter Personen beleidigen würden, sind hier plötzlich akzeptabel und werden regelmäßig von hohen Beamten geäußert und vertreten.
Derartige Argumente dienen der Ablenkung vom eigentlichen Wunsch des Gegenüber, nämlich die tatsächliche Rückkehr des Kunstobjekts. Die fortdauernde Dominanz extrem schwacher Argumente in der Nofrete-Debatte muss deshalb in vielerlei Hinsicht als ein Sieg der Museumsdirektoren und Ethnologen gewertet werden. Sie haben es geschafft, einen Teil ihrer Mitbürger – zumindest einige ihrer Regierungen – davon zu überzeugen, dass Kulturgüter, die aus Afrika, Asien und Amerika unter dubiosen Umständen erworben wurden, heute als Teil ihrer eigenen Kultur gelten können. Die Nofretete sei das Wesen der Schönheit schlechthin, sagen einige von ihnen. Gab es denn gar keine Symbole der Schönheit in der deutschen Kultur, bevor die ägyptische Königin 1913 aus Ägypten geschmuggelt wurde?
Das Britische Museum London, das Neue Museum Berlin, das Ethnologische Museum Berlin sowie das Völkerkundemuseum Wien und das Musée du Quai Branly in Paris erkannten im Anschluss an die berüchtigte „Erklärung über die Bedeutung und den Wert von Universalmuseen“ (2002) die Nofretete, die Benin-Bronzen und andere afrikanische Kulturgülter als Teil ihrer eigenen Kultur an. Die Deklaration verkündigte die Absicht der westlichen Museen, die gestohlenen/geplünderten oder die unter dubiosen Umständen erworbenen Objekte nicht zurückzugeben. Museumsdirektoren und Ethnologen haben es also fertig gebracht, ihre Mitbürger davon zu überzeugen, dass Kulturgüter, die zuvor als „heidnisch“ galten, jetzt als Teil europäischer Kultur angesehen werden – und niemand scheint sich daran zu stören, niemand äußert einen Einwand. Selbst die Kirchen und andere religiöse Einrichtungen, die eigentlich als erste Widerspruch äußern sollten – nicht nur aus theologischen, sondern auch aus moralischen Gründen – schweigen ebenfalls zu dem Thema. Massaker und andere Formen von Unterdrückung, inklusive Gewalt und Betrug bei der Aneignung und beim Raub fremder Kulturgüter, scheinen diejenigen nicht zu kümmern, die sich ansonsten häufig und gerne als moralisches Gewissen aufspielen.
Ein Schamgefühl, das die öffentliche Ausstellung von gestohlenem fremden Eigentum begleiten müsste, scheint heutzutage komplett aus dem europäischen Bewußtsein verschwunden zu sein. Sogar wenn die ursprünglichen Eigentümer lautstark für die Rückgabe ihrer Kulturgüter protestieren, bleiben die meisten westlichen Museumsdirektoren davon unberührt. Sie reagieren, als seien ihre eigenen Handlungen alltäglich und normal, während diejenigen, die für die Rückggabe der Artefakte kämpfen, als Unruhestifter diffamiert werden, die es wagen, die hochgradig wissenschaftliche Ausstellung ihrer Kultur zu stören.
Die Anmaßung, die Kultur anderer präsentieren zu dürfen, während im Herkunftsland für die Rückgabe desselben kulturellen Eigentums gekämpft wird, ist eine der schlimmsten Formen des kulturellen Imperialismus. Er basiert nämlich auf der einfachen Annahme, dass nur westliche Museen und Experten ausreichend qualifiziert sind, um afrikanischen Kultur ausstellen und erklären zu können. Die Annahme der Überlegenheit wird hier gezielt benutzt, um zu rechtfertigen, was andernfalls als inakzeptables moralisches Versagen gelten würde. Sogar stehlen, plündern und töten werden vertretbar, wenn sie als notwendig für den Schutz der Kulturgüter anderer dargestellt werden. Der Triumph der Museumsdirektoren und Ethnologen scheint im Hinblick auf das makellose Gewissen einiger Personen beinahe vollendet zu sein. Wo stehen in dieser Frage all die Intellektuellen, die angeblich so kultursachkundig sind? Sie bleiben in dieser Angelegenheit meist taub und stumm.
Der Westen hat dem Rest der Welt genügend kulturelle Objekte entwendet und sollte jetzt endlich dazu bereit sein, einige von ihnen zurückzugeben. Allein in Deutschland befinden sich heute mehr als 200.000 ägyptische Artefakte. Die Deutschen sollten sich diese Tatsache vergegenwärtigen, wenn sie sich mit Ägyptern um ein einziges Objekt, die Büste der Nofretete, streiten – egal wie groß die Liebe vieler Deutscher zu ihr sein mag. In den deutschen Museen gibt es schließlich noch andere, gleichermaßen würdige Figuren, wie James Simon, der einst die Ausgrabungen in Amarna finanzierte und die Nofretete als Geschenk an das Neue Museum überbrachte, in dem Eingangszitat bemerkte. Ist es nicht ehrbarer, die Position von James Simon einzunehmen, der für die Rückkehr der Nofretete nach Ägypten eintrat, als die Meinung eines Adolf Hitlers zu verteidigen, der in seinen wilden Ambitionen davon träumte, ein neues Museum mit der Nofretete als zentralem Prunkstück zu errichten?
Es bleibt nur zu hoffen, dass die Ägypter, Nigerianer und andere Völker mit ausstehenden Rückgabeforderungen ihre Anstrengungen angesichts solch absurder Argumente verdoppeln, damit die Frage der Rückkehr der Kulturgüter zu ihren ursprünglichen Eigentümern bald gelöst werden kann. Die deutsche Gesellschaft, wie viele andere westliche Gesellschaften, scheint die Notwendigkeit vergessen zu haben, in dieser Angelegenheit zu kooperieren, wie Artikel 15 des „Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut“ vom 14. November 1970 noch verlangte:
„Dieses Übereinkommen hindert die Vertragsstaaten nicht, untereinander Sonderabkommen zu schließen oder bereits geschlossene Abkommen weiter anzuwenden, welche die Rückgabe von Kulturgut zum Inhalt haben, das aus irgendwelchen Gründen vor Inkrafttreten dieses Übereinkommens für die betreffenden Staaten aus dem Ursprungsland entfernt worden ist.“
Nur dadurch, dass Fairness, Moral, harmonische internationale Beziehungen sowie die Resolutionen der UNESCO und der Vereinten Nationen irrelevant für Fragen der Rückgaben von Kulturgütern geworden sind ist es möglich, dass Staaten wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA und Belgien es sich leisten können, mit Ägypten, Äthiopien, Nigeria und anderen Staaten über die Rückgabe von geplünderten/gestohlenen Kulturgütern zu streiten. Diesen gesamten absurden Argumenten zugrunde liegt dabei die in westlichen Gesellschaften noch immer vorherrschende Überzeugung einer Minderwertigkeit nicht-westlicher Gesellschaften. Wie ist die Fülle der extrem schwachen Argumente ansonsten zu erklären, die von Österreichern, Briten, Franzosen und Deutschen dargeboten wird, wenn es bei der Frage um die Rückforderungen geplünderter, gestohlener oder zweifelhaft erworbener afrikanischer Artefakte zu einer Diskussion kommt?
Kwame Opoku, 29. Januar 2011
"Die Geschichte der Büste der Nofretete zeigt sehr deutlich, wie hohl es klingen kann, wenn sich Deutsche und andere Europäer auf rechtliche Grundsätze in Bezug auf die ‚Dritte Welt‘ beziehen.“
Gert von Paczensky und Herbert Ganslymayr, 1984
Königin Tiye, Ägypten, derzeit Neues Museum Berlin, Deutschland.
Eine weitere ägyptische Königin in Berlin. Wird aus ihr auch noch eine „Berlinerin“ gemacht oder ist sie dafür zu dunkel?