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Publikation: Presence of the Colonial Past – Afrika auf Europas Bühnen (Festival Theaterformen 2010)

Das internationale Festival Theaterformen 2010 in Braunschweig, das in 2010 unter dem Titel "Presence of the Colonial Past – Afrika auf Europas Bühnen" stattfand, hat eine begleitende und dokumentierende Publikation herausgebracht mit u.a. einem Text von Kien Nghi Ha "Decolonizing Germany".

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Ein internationales Festival bildet immer auch eine bestimmte Vorstellung von der Welt ab. Da ist es notwendig, ab und an zu hinterfragen, mit welcher Absicht und von welchem Standpunkt aus wir schauen, denn neutral sind unsere Blicke nicht. In dem etwas umständlichen zweisprachigen Titel des Themenschwerpunkts Presence of the Colonial Past – Afrika auf Europas Bühnen, den das Festival Theaterformen 2010 in Braunschweig veranstaltete, ist durchaus ein gewisses Unbehagen spürbar. Denn das Festival sollte eben nicht einfach einen „Afrika-Schwerpunkt“ haben. Vielmehr wollten wir den europäischen Blick auf den afrikanischen Kontinent thematisieren – überspitzt gesagt: Es ging vor allem um weiße Köpfe, nicht um schwarze Körper. Aber auf einem Gebiet, auf dem die Grundlagen und die Begriffe fehlen, ist es schwierig, präzise zu formulieren und zu kommunizieren.

Denn was für ein Minenfeld! Beim Stichwort Afrika begegnet man meist naivem Gutmenschentum oder zynischer Gleichgültigkeit, sowie massenhaft falschen Vorstellungen, Unwissen und Vorurteilen. Die akademischen Insider empfinden den postkolonialen Diskurs als eigentlich schon ‚durch‘, wohingegen der durchschnittliche Deutsche (mich selbst eingeschlossen) nicht einmal die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika vollständig aufzählen kann. In Fernsehfilmen oder Bühnen-Shows wird eine gedächtnislose Lust an der Exotik hingebungsvoll kultiviert, und im Avantgarde-Sektor sind Projekte ‚mit Afrika‘ durchaus in Mode. Aber die Auseinandersetzung – so sie denn überhaupt stattfindet – ist meist sentimental, pauschal und vor allem geschichtslos. Über 50 Länder in denen etwa eine Milliarde Menschen leben, werden über einen Kamm geschoren und zusammengefasst zu einem diffusen Etwas zwischen Elend und Exotik. Es fehlt das Bewusstsein für die lange gemeinsame Geschichte. Es fehlt an Respekt, Präzision und Realismus. Es fehlt manchmal schlicht und ergreifend das Eingeständnis, bestimmte Dinge nicht zu verstehen. Keinem anderen Kontinent begegnen wir mit einer solchen Ignoranz wie dem afrikanischen.

Aber warum? Warum ist das so? Der Themenschwerpunkt Presence of the Colonial Past, der die Filmreihe Archiv möglicher Zukunft, vier Theaterproduktionen, das Themenwochenende Die Gegenwart des Anderswo im Jetzt und schließlich diese Onlinepublikation umfasst, untersuchte in den unterschiedlichsten Formaten eigentlich immer wieder diese Frage.

Die kurze Dauer der deutschen Kolonialgeschichte beispielsweise bedeutet nicht, dass sie in Deutschland folgenlos geblieben wäre. In welcher Weise auch Fantasien eigener Großmacht und mythische Selbst-überhöhungen historisch mächtige Kräfte sein können, machte Kien Nghi Ha in seinem Vortrag Decolonizing Germany deutlich, der das Themen-wochenende Die Gegenwart des Anderswo im Jetzt eröffnete. Und dass Rassismus ein ideologisches Konstrukt ist, auf pseudowissenschaftlichen Forschungen beruhend und im konkreten Interesse einer ausbeutenden kolonialen Machtpolitik – diese Erkenntnis fuhr einem in Brett Baileys theatraler Installation Exhibit A mit seltener emotionaler Wucht unter die Haut. Und dass wir sehen, was wir zu sehen erwarten, das hielt uns Faustin Linyekula vor Augen wenn er in seiner Performance Le Cargo formuliert: „I am an African dancer! I have exotic stories to sell! Which one do you want to hear today?“ Sie ist nach wie vor sehr gegenwärtig, die koloniale Vergangenheit, und sie verstellt unseren Blick. Also: Dekolonisiert die weißen Köpfe!

Das auf dieser Website versammelte Material ist vielleicht ein Anfang, womöglich ein Anstoß. Unser Dank gilt den Künstlern, Wissenschaftlern und Autoren, die ihre Arbeiten und Gedanken zur Verfügung gestellt haben und natürlich der Kulturstiftung des Bundes, deren Förderung das gesamte Projekt überhaupt ermöglichte.

Anja Dirks für das Festival Theaterformen

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