Online-Publikation: Das letzte bekannte Interview mit Thomas Sankara vom 6.10.1987

Am 15. Oktober 2013, hat sich der Tod des außergewöhnlichen Staatsmannes Thomas Sankara zum 26. Mal gejährt. Anlässlich dieses Datums hat AfricAvenir dieses Interview, das wenige Tage vor seiner Ermordung von der damals in Kamerun lebenden deutschen Journalistin Inga Nagel geführt wurde, transkribiert und übersetzt. Einen Auszug dieses Interviews, das im November 1987 in Jeune Afrique unter dem Titel „Message d’outre tombe“ publiziert wurde, hat AfricAvenir bereits vor einem Jahr als |+| „Nachricht aus dem Jenseits“ veröffentlicht. Der vorliegende Text ist nun die Übersetzung des gesamten, fast anderthalbstündigen Interviews.

Inga Nagel, die heute in einem Menschrechtsnetzwerk in Haiti arbeitet, erinnert sich noch genau an die Ermordung Thomas Sankaras:
„Mein Leben lang wird mir der 15. Oktober 1987 im Gedächtnis bleiben, als aufgeregte NachbarInnen in der hereinbrechenden Dunkelheit zu mir kamen. Ein paar Tage vorher war ich in das kamerunische Dorf zurückgekehrt, in dem ich damals lebte. „Mach das Radio an, in Ouagadougou wird geschossen. Wahrscheinlich ein Putsch.“ Und dann die schreckliche Nachricht: Thomas Sankara ist tot. Schockiert hockten wir die ganze Nacht beieinander. Und ich musste erzählen, wie es war, wie ER war, der mich an jenem Sonntagmorgen des 6. Oktober fast zwei Stunden lang empfangen hatte, in seinem kargen Büro im Präsidentenpalast.“

In seinem letzten Interview zieht Sankara seine eigene kritische Bilanz und beantwortet alle Fragen, selbst die zu seiner möglichen Ermordung: „Eines Tages wird vielleicht jemand aus einer Menschenmasse heraustreten und auf den Präsidenten schießen. Und dann ist er tot. Das kann passieren.“ Doch stur in seinem Vertrauen in die Menschen – vielleicht sogar im Missverständnis der menschlichen Natur – leugnete er die Meinungsverschiedenheiten zwischen seinen Kameraden und sich. Immer enthusiastisch hielt er daran fest, sich mit dem Volk identifizieren zu wollen. Gleichzeitig zog er realistisch seine eigene Bilanz, wobei er den Akzent auf zwei oder drei kleine Erfolge setzte und… 10.000 Fehler.  (Sennen Andriamirado)

I.N.: Herr Präsident, wann und wie sind sie der Ideologie, die Sie in der Folge übernommen haben, zum ersten Mal begegnet?

T.S.: Ich würde eher von einem Bewusstsein sprechen, dass in mir keimte. Wie Sie wissen, stamme ich aus einer sehr bescheidenen Familie, und ich habe meine Leute leiden sehen. Ich habe auch die Kolonisation erlebt und alles, was den Meinen angetan wurde – einfach nur, weil wir wir waren, die Schwarzen, und die anderen waren die anderen, die Weißen Kolonisatoren. Ich habe aber auch gesehen, wie Schwarze andere Schwarze verraten haben, um bei den Weißen gut dazustehen. Später habe ich erlebt –  wir waren noch ganz klein  –, als von den Unabhängigkeiten gesprochen wurde, wie die Unabhängigkeit über uns wie ein großes Unglück hereinbrach. Obwohl man uns doch glauben gemacht hatte, dass die Unabhängigkeit die Quelle eines großen Glücks sei. Diese Erlebnisse in meiner Familie und in meiner kleinen Kinderwelt in der Schule usw. haben mich aufgebracht, haben mich die Ungerechtigkeit spüren lassen, und folglich habe ich diese Fragen mit den Älteren diskutiert und mehr und mehr verstehen können, dass es Prinzipien gibt, die die Gesellschaft bestimmen; Prinzipien, die Ungerechtigkeit schaffen, und solche, die dieser Ungerechtigkeit entgegenwirken können.

I.N.: Sie haben die Revolution ja nicht erfunden. Aus welcher Quelle haben Sie geschöpft?

T.S.: Nein, ich habe sie nicht erfunden. Man muss ganz einfach sagen, dass, auch wenn es anderswo auf der Welt Revolutionen gibt, brauchen wir in Burkina nicht unbedingt eine Quelle, um daraus zu schöpfen. Es reicht aus, sich die Realität anzuschauen. Wissen Sie, da, [unverständlicher Teil] wo es Ungerechtigkeit gibt, kommt es zwangsläufig zur Revolte, zum Kampf. Und zwangsläufig zum Sieg. Das ist die Revolution. Es sind also Burkinas lokale Gegebenheiten, die die Revolution herauf beschworen haben.

I.N.: Wann haben Sie beschlossen, die Dinge in Burkina, in Obervolta, in die Hand zu nehmen?

T.S.: Nein, ich habe das niemals entschieden, mich als Führer zu präsentieren, auf welcher Ebene auch immer. Es ist wahr, dass ich früher viel im Untergrund gearbeitet habe; später haben die Umstände mich in eine bestimmte Position gezwungen, aber ich habe mir das niemals ausgesucht. Im Gegenteil, ich hatte schon zuvor mehrfach die Gelegenheit und habe abgelehnt, sei es unter dem CSP , sogar davor, aber ich habe die Führungsfunktion immer abgelehnt, weil ich denke, dass es das Volk ist, das seinen Weg macht. Es ist nicht ein Individuum auf diesem oder jenem Posten. Und ich dachte, dass ich von der Ebene, auf der ich mich befand, einen guten Beitrag leisten könnte. Das soll heißen, dass ich mit meiner politischen Arbeit darauf hinwirken konnte, dass andere das verstehen würden, was ich selbst meinte, verstanden zu haben. Ebenso konnte ich selbst daran arbeiten, die Dinge noch besser zu verstehen, wo mein Niveau noch nicht ausreichte. Ich konnte Ideen verbreiten und daran mitwirken, dieses Ideal der Gerechtigkeit für unser Volk zum Leben zu erwecken. Doch unglücklicherweise, oder glücklicherweise, ich weiß auch nicht, haben die Ereignisse dazu geführt, dass ich bestimmte Ämter erfüllen musste, bis hin zu dem des Präsidenten.

I.N.: Sie haben sich also nicht zum Politiker berufen gefühlt?

T.S.: Nein nein nein, politischer Kämpfer, ja, aber Verantwortlicher auf welchem Niveau auch immer:  nein, ich habe mich damit nie identifiziert. Selbst heute wäre ich noch bereit, jeden möglichen Posten zu besetzen, vorausgesetzt, dass ich im revolutionären Kampf bleiben kann. Das würde mich überhaupt nicht stören, bis heute nicht.
 
I.N.:  Wie ist sie denn, die Revolution à la Burkinabè?

T.S.: Also, die Revolution auf burkinisch richtet sich nach den besonderen Gegebenheiten unseres Landes. Dieses ist agrarisch geprägt, sehr rückständig, mit einem hohen Analphabetentum und verschiedenen sozialen Schichten, die nicht alle ein hohes Ansehen haben und nicht ausreichend organisiert sind, um ein Klassenbewusstsein zu entwickeln und den Klassenkampf zu führen. [unverständlicher Teil] Das Kleinbürgertum bleibt bei uns ein Vektor des Imperialismus auf Grund der sich wiederholenden Sozialisierung [unverständlicher Teil]. Die Revolution ist bei uns also anders als in anderen Ländern, weil unsere Bedingungen so besonders sind, dass wir kein Modell, kein Beispiel übernehmen könnten. Aber natürlich sind unsere Prinzipien, unsere Ideale dieselben wie die universellen Prinzipien der Revolution.

I.N.: Warum nennen Sie es nicht Sozialismus ?

T.S.: Weil der Sozialismus eine Phase des Kampfes ist. Wir sind auf dieser Stufe noch nicht angekommen. Wir werden nicht – auch wenn es legitim ist, sich den Titel auszusuchen, den man tragen möchte. Wir werden uns keine Titel, Etiketten oder Bezeichnungen geben, die nicht dem reellen Stand unseres Kampfes entsprechen.

I.N.: Welche Länder betrachten Sie als befreundete Länder ?

T.S.: Wo? Wir haben viele befreundete Länder. In Afrika oder außerhalb? So wie wir Feinde haben, weil die Revolution sich gegen die etablierten Interessen der Kapitalisten, Bürgerlichen und Reaktionäre richtet, so haben wir auch Freunde. Zum Beispiel in Deutschland, da haben wir zahlreiche Freunde. Ich bekomme Briefe von Deutschen, die mir schreiben und mich fragen, was es bei uns Neues gibt. Solche betrachten wir als Freunde.

I.N.: Wie demonstrieren Sie Ihre Solidarität mit den anderen Völkern ?

T.S.: Zuerst einmal tun wir alles, um dafür zu sorgen, dass unser Volk, das burkinische Volk, die anderen Völker kennt. Was man nicht kennt, kann man auch nicht respektieren. Das ist unsere erste Bemühung. Seit dem 4. August 1983 wird in unserem Land sehr viel von den anderen gesprochen. Wir sind ein Binnenland ohne Meereszugang, aber wir arbeiten hart daran, uns den anderen gegenüber zu öffnen. Zweitens schulen wir unser Volk, damit es erkennt, welche Führer pro-imperialistisch eingestellt sind [unverständlicher Teil]. Drittens besuchen wir die anderen Völker im Rahmen von Austauschprogrammen und Zusammenarbeit [unverständlicher Teil]. Und wir haben uns entschlossen, den anderen Völkern zu zeigen, dass das Elend des burkinischen Volkes [unverständlicher Teil]  dieselben Ursachen hat wie das Elend und Leiden, das diese Völker vielleicht auch kennen. Natürlich sind die Leiden unterschiedlich. In Ihrem Land Deutschland sind die Sorgen des Volkes nicht genau die gleichen wie bei uns. Aber die Herrschaft über Ihr Volk ist die gleiche wie bei uns, sie entspringt der selben Macht, nämlich jener der reaktionären Kräfte, die wir gemeinsam hinwegfegen müssen, ob in Deutschland oder Burkina oder sonst wo. Genau da müssen wir es schaffen, Verbindungen aufzubauen, ideologische Einigkeit und gemeinsame Aktionen. Die Deutschen sind nicht die Feinde der Burkinabè, und die Burkinabè sind nicht Feinde der Deutschen.

I.N.: Sprechen wir über die afrikanische Einheit. Glauben Sie, dass die OUA (Organisation der afrikanischen Einheit) ein geeignetes Instrument ist, die Probleme Afrikas zu lösen?

T.S.: Also das kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich muss aber sagen: Ich glaube an die afrikanische Einheit und ich glaube daran, dass sie kommen wird. Vielleicht in einem Jahr, vielleicht in tausend Jahren, ich weiß nicht wann, aber sie wird als Ausdruck dessen gedeihen, was die Völker wünschen. Den afrikanischen Völkern sind die Grenzen zunehmend egal. Sie kommunizieren untereinander und ignorieren, was die Führer wollen. Das heißt, dass die Staatschefs sich mit ihren Völkern identifizieren und ihre Interessen respektieren müssen, wenn sie nicht von ihnen weggefegt werden wollen. Das wird uns zur Einheit führen. Die Einheit einiger Führungspersönlichkeiten an der Spitze wird nicht ausreichen.

I.N.: Edem Kodjo sagte einmal: „Afrika ist bei den großen weltweiten Debatten abwesend.“ Wem geben Sie die Schuld daran?

T.S.: Schuld haben die, die Afrika ausbeuten. Schuld haben aber auch die AfrikanerInnen, die sich nicht zusammenschließen, um ihren Platz einzunehmen. [unverständlicher Teil]  Der Sklave verdient seine Ketten. Wenn ein Sklave seine Ketten abstreifen will, muss er kämpfen. Der Sklave, der nicht kämpft, der seiner Pflicht nicht nachkommt, kann sich von seinen Ketten nicht befreien. Wenn er nicht kämpft, wird er sich nie befreien. Er wird ein Sklave bleiben, welche Gefühle ihm sein Herr entgegen bringen oder welche moralische Reden dieser auch schwingen mag. Die AfrikanerInnen müssen sich gegen all jene organisieren, die sie aus den Debatten dieser Welt ausschließen. Sie müssen sich durchsetzen, und es ist ihnen auch möglich, sich durchzusetzen.

I.N.: Reden wir über den Tschad. Warum haben Sie es der tschadischen Opposition ermöglicht, sich hier zusammenzufinden?

T.S.: Weil wir glauben, dass der Frieden im Tschad einer Vision entspringt. Wir müssen akzeptieren, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Es bringt nichts, sich die Augen zuzuhalten, eine Vogel-Strauß-Politik zu betreiben, zu behaupten, es gäbe keine tschadische Opposition, obwohl alle wissen, dass sie existiert. Es befinden sich mehr tschadische Führungskader außerhalb als innerhalb des Tschad. Welche auch immer die Lösung sein wird, die wir für den Tschad finden: solange die Tschader im Ausland nicht organisiert sind, auch um sich untereinander zu verständigen, bleibt es eine Illusion. Und weil wir das tschadische Volk lieben, müssen wir uns öffnen und ebenfalls Opfer zu seinen Gunsten bringen. Deswegen sagen wir der tschadischen Opposition, wenn wir sie treffen: „Vereint Euch und findet eine Formel, einen Weg, euch mit den anderen zu verständigen, um zu einer Einigung zu finden.“ Welcher Weg ist das? Nun, er ist nicht ausgeschildert.

J.A.: Ergreifen Sie Partei?

T.S.: Das können wir nicht. Deswegen kann es auch ein langwieriger Prozess werden. Es wäre ja für uns einfach gewesen, zu sagen: Also, wir haben dieses Lager gewählt, damit sind wir gegen jenes andere Lager. Wir machen das nicht [unverständlicher Teil]. Es geht doch gar nicht darum, bestimmte Personen zu unterstützen, vielmehr geht es um die Interessen des tschadischen Volkes. Es geht darum, dass sich das tschadische Volk befreit. Sehen Sie, allen tschadischen Bewegungen wird hier Rechnung getragen. Ob nun die im In- oder Ausland, von dieser oder jener Macht unterstützt – sie sind einbezogen [unverständlicher Teil]. Wir dürfen gar keine Partei ergreifen.  

I.N.: Ouaga wird auch die Plattform für ein Forum gegen die Apartheid sein. Warum? Was ist Ihr Interesse daran?

T.S.: Wir sind alle gegen die Apartheid und wir denken, dass sie ein Thema ist, das alle Menschen angeht, Schwarze wie Nicht-Schwarze. Wenn es stimmt, dass die Schwarzen sich von der Unterdrückung der Weißen Rassisten in Südafrika befreien wollen, dann glaube ich nicht, dass es den anderen Weißen in Afrika und außerhalb gleichgültig sein kann, zu wissen, dass die Schwarzen sie eines Tages mit den Weißen Rassisten in Südafrika verwechseln könnten. Ich glaube demnach, dass es im Interesse aller ist, dass Rassismus und Apartheid in der Welt ausgerottet werden. Die Debatten auf Regierungsebene reichen jedoch nicht aus, weil hier immer auch Staatsinteressen mitmischen. Diese Interessen entwickeln sich auf der Grundlage von Kompromissen oder sogar Zugeständnissen. Deshalb denken wir, dass kein Volk gegen die Apartheid kämpfen kann, wenn es kein Bewusstsein gegen die Apartheid, gegen Rassismus, entwickelt hat. Wir möchten, dass unser Volk dieses Bewusstsein erlangt. Und das Forum hat zum Ziel, die Massen unabhängig von der Regierung zu mobilisieren. Klar, unsere Regierung ist dafür, unsere Revolution ist für diesen Kampf. Deswegen stellen wir uns übrigens auch nicht dagegen; wenn wir etwas tun können, um dieses Forum zu unterstützen, werden wir es tun. Es ist aber vor allem Sache des Volkes, nicht der Regierung. Und wir wünschten uns, dass alle Regierungen auf der ganzen Welt ihren Völkern freien Lauf ließen, sich gegen die Apartheid zu organisieren. Am Tag, an dem die Völker der Erde sich der Apartheid wirklich bewusst werden, werden wir keine Gipfel mit Staatschefs mehr veranstalten müssen, um über Wirtschaftsboykotts [unverständlicher Teil] zu entscheiden. Es werden die Völker selbst sein, die diese Boykotts beschließen. Sogar, wenn die Führer für eine Verständigung, einen Dialog mit Südafrika sind, werden sie überstimmt werden. Viele Staatschefs haben die Nachrichten gegen die Apartheid, die sie in ihren Ländern verbreiten sollten, sogar erstickt [unverständlicher Teil].

I.N.: Wie sehen Ihre derzeitigen Beziehungen zu Libyen aus?

T.S.: Unsere Beziehungen sind hervorragend, weil wir klare Prinzipien aufgestellt haben. Wir sagen Libyen, was wir von ihm halten, und wir unterstützen es auch in seinen Bestrebungen; auch wenn die Leute anfangs behaupteten, dass wir eine Schachfigur Libyens seien, glaube ich, dass die Dinge jetzt klar sind, und wenn es Länder gibt, die frei, ehrlich und direkt mit Libyen reden, dann ist, glaube ich, Burkina Faso eines davon. Es ist gut, dass wir mit Libyen in Dialog getreten sind und von Zeit zu Zeit sagen, was wir zu sagen haben, ehrlich und direkt. Denn es ist ein afrikanisches Volk, des Interesses würdig, welches ein richtiges Anliegen verteidigt, das dort in Libyen propagiert wird. Wir können natürlich mit den Methoden nicht einverstanden sein, so wie sie mit unseren oft nicht einverstanden sind. Dies stellt aber kleinere Widersprüche dar. Selbst die Libyer untereinander sind nicht zu hundert Prozent einer Meinung, so wie wir das auch unter uns Burkinabè nicht sind.

I.N.: Aber Gaddafi träumt von einer islamischen Expansion. Haben Sie keine Angst davor?

T.S.: Islamische Expansion… auf jeden Fall haben wir sehr alte und enge Beziehungen zu Libyen, und wir erleiden keinen islamischen, islamisierenden Druck von Seiten Gaddafis. Die Dinge sind sehr klar, und Gaddafi hat, seit er herkommt, noch nicht über den Islam gesprochen.

I.N.: Empfangen Sie Hilfe von Seiten Libyens?

T.S.: Sehr wenig. Aber, wissen Sie, es ist nicht auf der Hilfsebene, dass wir an unseren Beziehungen mit Libyen stricken. Ich kenne viele Länder, die als anti-libyisch gelten, aber viel mehr Hilfe von Libyen erhalten als Burkina. Das hindert uns nicht daran, mit Libyen dort einverstanden zu sein, wo wir wirklich denken, dass die Positionen korrekt sind und jemand in der Welt die Libyer unterstützen muss. Selbst, wenn wir dafür gar nichts erhalten, keine Prämie oder so.  

I.N.: Wie denken Sie über die – sogar atomare – Aufrüstung der Länder der Dritten Welt?

T.S.: Ich möchte nicht, dass wir über die Aufrüstung sprechen, als gäbe es einerseits eine akzeptable und andererseits eine inakzeptable Aufrüstung. Selbst ein Knüppel oder Messer ist genauso gefährlich und verwerflich wie die Atombombe. Wenn Sie die Atombombe verdammen, dann können Sie auch Pistolen, Gewehre oder Granaten verdammen. Für mich ist das ähnlich. Wichtig ist, was man mit diesen Waffen erreichen will. Den Völkern Gesetze aufzwingen? Ist das beste Gesetz des Lebens, jeder Gesellschaft und jeden Volkes nicht jenes, das das Volk selbst wählt? Wenn man die Freiheit und die Demokratie sich ausdrücken ließe, dann wäre dies mächtiger als jede Atombombe, als alle Gefängnisse, als jede Polizei der Welt. Und wenn man die Völker untereinander kommunizieren ließe, bräuchte man keine Panzer oder Kampfflugzeuge, um eine Politik durchzusetzen. Aber je weniger man der Stimme des Volkes zuhört, je weniger man das Recht des Volkes, sich auszudrücken, respektiert, desto mehr muss man Gewalt anwenden, mag sie atomar oder konventionell sein.

I.N.: Aber ist es denn vertretbar, dass die Armen enorme Summen ausgeben, um sich zu bewaffnen?

T.S.: Es ist für niemanden vertretbar, Geld für Bewaffnung auszugeben. Für niemanden, weder die Armen noch die Reichen. Bewaffnung ist kein Luxus, kein Recht der Reichen. Sie ist eine Dummheit der Armen wie der Reichen. Ein deutsches Sprichwort sagt: „Der Klügere gibt nach.“ Es ist der Klügste, der sich gleichzeitig als der Mächtigste erweisen kann. Die größte aller Mächte ist jene, die dem Volk am meisten Würde verleihen kann, am meisten Freiheit, am meisten Demokratie. Das ist die allergrößte Macht.

I.N.: Wie viel geben Sie für Ihre Armee aus?

T.S.: Wir geben für unsere Armee etwas mehr als fünf Milliarden Francs CFA  aus. Das ist viel, zuviel sogar. Und wir tun alles, um das zu ändern. Wie? Nun, da haben wir zuerst die Militärs, deren Gehälter wir zahlen müssen. Da sie schon da sind, werden wir sie nicht verjagen, immerhin sind sie es nicht, die die Armee erschaffen haben. Wir versuchen, sie auf den Feldern, in Schulen oder Krankenstationen einzusetzen. Wir versuchen, unsere Armeeangehörigen allmählich umzuschulen. Natürlich können wir sie nicht von einem Tag auf den anderen auflösen, da wir ja auch für unsere Sicherheit angesichts anderer Staaten sorgen müssen. Doch die Arbeit daran, die Belastung unseres Budgets durch die Armee zu verringern, machen wir gemeinsam mit anderen Ländern und Regimes, damit diese ebenfalls keine Armee mehr haben wollen. Wenn die anderen keine Armee haben, brauchen wir auch keine. Wir werden zuviel Geld an die Armee verlieren, obwohl sie nicht von Bedeutung ist. Wir müssen aber die anderen überzeugen, und um das zu tun, müssen wir sie beruhigen, Kontakt halten, und das dauert. Was für den Menschen nämlich am leichtesten geht, das ist dieser Reflex der Gewaltanwendung, eher als die Überzeugung, die viel mehr Aufwand und Opfer erfordert.

I.N.: Wie beurteilen Sie die Verhandlungen über die Abrüstung der Supermächte?

T.S.: Ja, ich denke, dass es weltweite Verhandlungen geben müsste, denn es betrifft ja nicht nur die Supermächte. Wie sollen die sich denn verständigen, wenn wir nicht einbezogen werden? Übrigens, wo finden denn die Kriege statt? Doch niemals bei den Supermächten. Alle derzeitigen Kriege finden bei den anderen statt. Es sind also zuerst wir die Betroffenen. Die Atombombe geht nicht nur die Supermächte an, denn wenn sie hochgeht, sind wir es, die die negativen Folgen tragen werden.
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I.N.: Ist der Mensch überhaupt fähig, in Frieden zu leben?

T.S.: Der Mensch ist fähig, in Frieden zu leben. Das ist aber eine Frage der gesellschaftlichen Entwicklung, der Lebensbedingungen und der Beziehungen zwischen denen, die uns den Frieden aufdrücken wollen. Frieden entspringt ja nicht aus wissenschaftlichen Gesetzen, oder? Und solange einige Bedingungen nicht erfüllt sind, kann es keinen Frieden geben, denn man wird immer einige Menschen finden, die lieber Krieg führen, um sich auf andere Weise durchzusetzen.

I.N.: Von 50 afrikanischen Staatschefs sind fast die Hälfte Militärs. Der Großteil von ihnen ist durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen. Warum ist das so?

T.S.: Ja, weil die Staatsmacht in unseren Ländern ausschließlich bei der Armee konzentriert und von ihr repräsentiert wurde. Deshalb wird die Armee im Krisenfall als die einzige Macht wahrgenommen, die Stabilität, eine gewisse Sicherheit und Durchsetzungsvermögen bieten kann. Gleichzeitig muss man sich aber darüber im Klaren sein, dass die Armeen normalerweise den reaktionären Mächten gedient haben. Es wurden zwar die Männer ausgewechselt, aber sie dienten nach wie vor der Reaktion. Wir denken aber, dass mit zunehmender Beteiligung des Volkes und der Bestärkung darin, dass es selbst seine Verteidigung übernimmt, Regimewechsel zwar stattfinden werden, aber immer mit Mitgliedern des Volkes, mit dem Volk selbst. Und das ist es, was wir bewirken wollen. Deshalb kann man sagen, dass es bei uns immer weniger Militär gibt: Damit, oder weil, alle Leute mehr und mehr zu Militärs werden; alle sind Militärs. Es gibt also keinen Unterschied mehr zwischen Militär und Zivilpersonen. Auf jeden Fall verschwimmt diese Grenze nach und nach.

I.N.: Wenden wir uns dem Beginn der Revolution zu. Wie haben die traditionellen Partner von Obervolta reagiert?

T.S.: Ihre Reaktionen waren sehr, sehr negativ… Sie meinen ausländische Partner?

I.N.: Ja.

T.S.: Die Reaktionen waren sehr negativ, sie akzeptieren die Revolution nicht. Sie lebten ja dank uns, beuteten unser Land aus dank der Beziehungen, die sie zu bestimmten Staatschefs hatten, mit Knechten, ihren Knechten hier, die Instruktionen erhielten und ausführten und so gewisse Bedingungen schufen, damit die Geschäfte ihrer im Ausland sitzenden Meister hier in Burkina Früchte tragen. Wir haben ihre Feindschaft erlebt und uns dann organisiert, um zuerst einmal zu zeigen, dass wir uns nicht gegen sie stellen, dass unsere Revolution sich nicht gegen wen auch immer richtet, sondern für die Befreiung unseres Volkes, und jene, die sich querstellen, sind genau jene, die wir bekämpfen werden. Einige haben uns verstanden, andere nicht, zusammengenommen haben wir uns mit zunehmender Unterstützung durch das Volk immer mehr durchsetzen können. So ist das.
 
I.N.: Und wie hat sich die Zusammenarbeit daraufhin entwickelt?

T.S.: Im Modus Vivendi. Das soll heißen, dass es keine wichtige Frage ist, ob sie uns oder wir sie mögen. Entscheidend ist eher, ob sie uns und wir sie respektieren. Das ist das eigentlich Wichtige. Und ich kann behaupten, dass jetzt jeder seinen Platz hat.

I.N.: Sie sind aber wirtschaftlich noch sehr an Frankreich gebunden. Stört Sie das?

T.S.: Wir sind an Frankreich gebunden, weil es traditionelle Verflechtungen gibt, über die wir ausgebeutet werden. Aber dies ändern, Frankreich für ein anderes Land aufgeben, das ist für uns nicht wichtig. Wichtig ist, dass wir – handle es sich um Frankreich oder um welches andere Land auch immer – unsere eigenen Interessen garantieren können, ohne die anderen ausbeuten oder betrügen zu wollen. Das ist uns wichtig. Das heißt, dass wenn ein anderes Land uns Konditionen anbietet, die für uns interessant sind, wir die auf jeden Fall annehmen werden. Wir haben aufgehört, ein Monopol für Frankreich zu sein, und wir arbeiten noch mit Frankreich zusammen, weil wir bis jetzt keine besseren Angebote hatten, das ist alles.

I.N.: Wie gestaltet sich die Beziehung zur deutschen Regierung?

T.S.: Wir haben etwas schwierige Beziehungen. Deutschland handelt mit Südafrika. Das ist eine Sache, die uns sehr schockiert. Wir denken, dass das deutsche Volk immerhin ein Volk ist, das die Freiheit liebt, das die Nazizeit erlebt hat und das der ganzen Welt als Beispiel eines Volkes dient – dienen muss –, das den Nazismus bekämpfen und denunzieren kann. Somit schockiert es uns, dass Deutschland mit Südafrika handelt. Besonders, weil wir viel Hoffnung in die Zusammenarbeit mit Deutschland gelegt haben und denken, dass sie sich nicht genug entwickelt. Nein, das geht nicht, das ist schwach, sehr schwach. Hier müssen auf beiden Seiten Anstrengungen unternommen werden.

I.N.: Sie erwähnten, dass die OUA eine wirtschaftliche Sanktionierung des Regimes in Pretoria fordert, gleichzeitig arbeiten aber etliche afrikanische Länder weiterhin mit Südafrika zusammen.

T.S.: Sicher. Bestimmt, aber das hängt ja alles zusammen. Die, die mit Südafrika zusammenarbeiten, hängen von den Europäern ab, die mit Südafrika kooperieren. Das ist die gleiche Clique.

I.N.: Hätten Sie gerne intensivere Beziehungen zu Deutschland?

T.S.: Ja, unbedingt. Wir wünschen uns eine Verstärkung der Beziehungen mit Deutschland, weil es viel gibt, was wir gemeinsam machen könnten. Das, was gemacht wird, ist sehr wenig. Wir verstehen nicht, wie ein Land, das so entwickelt ist wie Deutschland, der Situation Burkinas gegenüber, unseren Anstrengungen gegenüber, so indifferent sein kann. Wenn Deutschland einen Partner sucht, ein Land mit integren, seriösen und arbeitsamen Menschen, dann denke ich, dass Burkina zwar kein perfektes Beispiel ist, aber eines, das eine ernsthafte Zusammenarbeit  umsetzen kann.

I.N.: Haben Sie Kontakte zur Sozialistischen Internationalen?

T.S.: Ja, aber sehr wenige Kontakte. Wir denken auch hier, dass die Kontakte mit der Zeit kommen werden, weil, wie Sie wissen, unsere Revolution eine völlig unabhängige Revolution ist. Wir haben keine Lehrmeister, keine Paten, deswegen kennen uns die Leute nicht und wir sie nicht. Wir kennen die Ideen, aber nicht die Menschen. Nach und nach werden wir die Leute kennenlernen, und sie werden uns vielleicht auch kennenlernen. Das ist der Vorteil und gleichzeitig die Inkohärenz unserer Unabhängigkeit. Wir sind derartig unabhängig, dass wir keine Paten haben. Wir sind sogar so unabhängig, dass wir niemanden haben, den wir anrufen können, wenn es ein Problem gibt. In anderen Regimes haben die Führer so viele Beziehungen in der Welt, dass sie links und rechts mit jemandem telefonieren und ein Problem unterbreiten können. Wir haben diese Möglichkeit nicht.
 
I.N.: Was denken Sie über die solidarische Dritte-Welt-Arbeit, in der sich viele Menschen bei uns engagieren? Ist es nicht manchmal vielleicht sogar schädlich, wenn Menschen, die Afrika nicht wirklich verstehen, mit ihren Ideen hier ankommen?

T.S.: Absolut. Es werden viele Fehler gemacht, Leute kommen her und begehen Fehler und scheitern komplett. Ja, es gibt deshalb totale Fehlschläge, weil Leute mit unbestreitbar guten Absichten kommen, aber gar nicht wissen, wie sie unser Volk ansprechen sollen. Genauer heißt das, dass sie tief drinnen, sogar unbewusst, einen Mangel an Respekt für andere Völker in sich tragen. Denn Respekt meint zuerst, den anderen gut zu kennen und zu achten. Wenn ich nach Deutschland komme, werde ich natürlich die deutschen Traditionen respektieren. Wenn ich das nicht tue, werde ich die Deutschen vor den Kopf stoßen. Wenn ich mich wie ein Burkinabè verhalten und den burkinischen Traditionen in Deutschland folgen will, werde ich die Deutschen schockieren, sie enttäuschen, und der Dialog wird verunmöglicht [unverständlicher Teil]. Der Unterschied ist doch der: ich bin Burkinabè, Sie sind Deutsche, ich lebe nicht wie Sie, aber ich achte Ihre Traditionen. Und ich lerne Sie besser kennen und verstehen, und so kann ich Ihnen dann auch den Unterschied zwischen uns zeigen und wie wir unser Bild des Menschen und der sozialen Beziehungen bereichern können.

I.N.: Aber Sie sind auf Hilfe angewiesen.

T.S.: Es gibt auf der ganzen Welt kein Land, das nicht auf Hilfe angewiesen wäre. Deutschland braucht Hilfe. Burkina braucht Hilfe.

I.N.: Was raten Sie Menschen, die wirklich guten Willens sind und einen Beitrag zu einer gerechteren Entwicklung in der Dritten Welt leisten wollen?

T.S.: Wir haben hierfür zuerst einmal ein Büro für die Koordinierung von NGOs gegründet und sind dabei, eine Struktur zu schaffen, die Menschen aus anderen Ländern empfängt, die nach Burkina wollen, um hier zu arbeiten. Nicht des Geldes wegen, denn woanders verdient man mehr als in Burkina, aber aus idealistischen Gründen, um sinnvolle Arbeit zu verrichten und zu spüren, dass man für die Menschen nützlich ist, dass man sie aus dem Elend zieht. Männer, Frauen, Kinder, Alte. Was wir jenen raten, ist zuerst zu versuchen, die anderen kennenzulernen, verstehen zu lernen. Zu versuchen, die Gründe zu verstehen, aus denen die anderen so elend sind, und den ernsthaften Kampf aufzunehmen. Es bringt nichts, mit Utopien zu kommen. Das ist wie bei einer Krankheit, die es zu heilen gilt: Um den Kranken gut heilen zu können, muss der Patient seinem Arzt gegenüber ehrlich sein. Wenn Sie an Bauchschmerzen leiden, aber behaupten, dass Sie Kopfschmerzen haben, kann der Doktor Sie niemals heilen. Wenn Sie diese oder jene Krankheit als beschämend empfinden und behaupten, etwas anderes zu haben, dann kann der Arzt Ihnen nicht helfen, welche Kompetenzen er auch immer haben mag. Der Arzt muss jedoch auch selbst versuchen, das Übel zu finden, zu diagnostizieren. Wir haben hier Konflikte, die dem Verhältnis zwischen Reaktionären und Revolutionären entspringen, zwischen dem Volk und den Feinden des Volkes. Letztere gibt es in Burkina und außerhalb Burkinas. Wenn man die Problemstellung so annimmt, kann man einen wichtigen Beitrag leisten. Sonst bleibt man nur ein Mildtäter, der es ablehnt, die Feinde des Volkes zu benennen, die das Leiden unseres Volkes letztendlich verursachen. So sieht man so genannte Helfer kommen, die gleichzeitig selbst in diesem Diskurs fortfahren. Diese Weißen sagen, sie seien gegen die Kolonisatoren, die unsere Vorfahren einfingen und als Sklaven verschifften etc. Sie meinen das auch ernst, aber da sie nicht versuchen, die objektiven Gründe unseres Leidens zu verstehen, sind sie letztendlich auch nicht besser als Sklavenhändler. Sie werden zu neuen Agenten des Handels mit uns Schwarzen und benehmen sich auch so. Sie organisieren die Schwarzen, damit sie Coca Cola trinken, damit sie sich dem Kapitalismus unterwerfen, der sie bereits in ihren eigenen Ländern ausbeutet… das ist nicht gut.

I.N.: Zwischen den Kulturen des Nordens und des Südens verläuft ein tiefer Graben. Ist ein wirkliches Verständnis, eine echte Solidarität zwischen Schwarzen und Weißen überhaupt möglich?

T.S.: Das ist nicht nur möglich, sondern wir müssen diesen Graben schnell schließen. Wir haben hier bei uns eine Struktur geschaffen, die wir das „Institut der Schwarzen Völker“ nennen. Ein Institut, das überhaupt nicht rassistisch ist, sondern darauf abzielt, dass Schwarze, Weiße, gelbe, rote Menschen in diese Institut kommen, um mitzuhelfen; zu erklären, wie sie die Schwarzen wahrnehmen und welches diese ganzen kleines Details sind, die dazu führen, dass zwischen den Schwarzen und den anderen widersprüchliche Reflexe bestehen. Wie man das lösen, diese ganzen Reflexe aushebeln kann. Bis hin zur Erziehung der Kinder, damit ein Kind nicht mit der Idee aufwächst, dass Schwarze böse, schlechte Wesen, ja, der Teufel sind. Wir wollen diesen Dialog der Völker, der Rassen, der Gesellschaften im Institut der Schwarzen Völker. Nehmen Sie zum Beispiel ein Schwarz-Weißes Pärchen. Wenn Sie gemischte Paare sehen, Schwarz und Weiß, sind sie oft unglücklich. Sie sind in Europa unglücklich, weil sie nicht als EuropäerInnen wahrgenommen werden. Sie sind in Afrika unglücklich, weil sie nicht als AfrikanerInnen wahrgenommen werden. Sie wissen nicht wohin. Das ist doch nicht normal! Oder wollen Sie etwa behaupten, dass es einer Weißen Frau verboten ist, einen Schwarzen Mann zu lieben? Dass es für einen Weißen Mann unrecht ist, eine Schwarze Frau zu lieben? Ist das schlecht? Ich glaube ja wohl nicht. Und die Kinder, die geboren werden, die Mestizen, sind die der Erbsünde schuldig oder was? Ich finde nicht, dass das normal ist. Und damit all diese Menschen glücklich werden und frei in der Wahl ihrer Freunde, Beziehungen, Verlobten, Ehemänner und Ehefrauen, müssen wir zu verstehen versuchen, was die Basis dieser Scham und Beklommenheit ist. Wir müssen über diese Dinge ehrlich sprechen, damit die Menschen freier werden. Ich habe viele Weiße Freundinnen, die Schwarze Männer heiraten wollten, Freunde von mir, Schwarz wie ich, und diese Frauen wollten sie gerne heiraten, aber entweder haben die Eltern dieser Frauen das abgelehnt oder die afrikanischen Freunde dieser Männer haben diese davon abgebracht, die Weiße zu heiraten. Das alles kam vor. Das ist nicht normal. Dabei kannte ich sie, sie haben sich sehr geliebt, und das war wirklich ein außergewöhnliches Paar. Also: ist es normal, eine solche Liebe zu zerstören? Es ist nicht normal! Wir müssen daran arbeiten, und wir sind die Verantwortlichen. Unsere Verantwortung besteht nicht nur darin, den Leuten Brot zu geben, Wasser, Gesundheitsversorgung oder Bildung. Es geht auch darum, ihnen zu ermöglichen, dass sie ihr Leben unbeschwert führen können, bis hin zu ihren Beziehungen. Wenn mir die deutsche Musik gefällt, muss ich sie hören dürfen, ich muss frei sein, diese Musik zu hören, zu fühlen und mitzuklatschen, zu tanzen etc. Wenn die afrikanische Musik den Deutschen gefällt, müssen sie sich daran erfreuen dürfen, ohne sich dessen zu schämen, ohne dass jemand sagt: Ach so, das sind dekadente Leute, oder was, nein! Alle müssen die freie Wahl haben.

I.N.: Was könnten die Weißen von Afrika lernen?

T.S.: Sehr viel. Sie könnten bei uns alles lernen, was nicht Weiß ist. Alles. Und, Sie sehen, es gibt viel zu lernen, nicht wahr?

I.N.: Gibt es Dinge, die die Weißen niemals verstehen werden?

T.S.: Nein. Weiße sind Menschen. Sie können alles verstehen. Wissen Sie, man sagt zu uns Afrikanern häufig: Nein, ihr, die Afrikaner, könnt die klassische Musik von Beethoven, von Bach usw. niemals verstehen. Das ist doch nicht wahr! Es wird auch behauptet, dass die Weißen nicht wie die Schwarzen tanzen können. Das stimmt doch nicht! Wenn man etwas lernt, dann kann man es danach auch, man muss es eben lernen.

I.N.: Sie selbst sind letztendlich ein Produkt des französischen Schulsystems, nicht wahr? Noch heute sind diese Einflüsse überall spürbar. Sie haben die Parole „Konsumiert burkinisch!“ herausgegeben, benötigen aber trotzdem hoch entwickelte Technologien. Wie sehen Sie [in diesem Spannungsfeld, Anm. d. Ü.] Ihre eigene Identität?

T.S.: Wir sehen unsere Identität als Ergebnis all dieser Einflüsse, wie eine Identität, die sich aus all diesen Einflüssen das Beste ausgesucht hat. Wenn wir sagen „lasst uns burkinisch konsumieren“, lehnen wir damit nicht automatisch alles ab, was aus dem Ausland kommt, nein, das ist es nicht, was wir sagen. Wir sagen, dass wir auf unsere eigenen Kräfte vertrauen müssen. Wenn wir in Burkina Faso dekadente oder retrograde Traditionen haben, müssen wir sie abschaffen. Und wir haben Traditionen, die ganz und gar nicht positiv sind. Wenn es hingegen bei den anderen positive Traditionen gibt, dann müssen wir die übernehmen. Man braucht Mut, das zu tun. Aber eine solche Assimilation fühlt sich nicht wie ein Aufzwingen an. Wir denken also, dass unser Volk sich in einer Zivilisation entwickelt, gleichzeitig mit anderen Zivilisationen, und wir sind überzeugt, dass früher oder später Schwarze und Weiße, Nord und Süd, Ost und West zu einer einzigen Zivilisation verschmelzen werden. Aber alle werden mit ihrer Kadenz kommen, ihrem Rhythmus, ihrer Handlungsfreiheit. Man darf anderen auf keinen Fall seine eigenen Vorstellungen aufzwingen, das ist alles. Aber wir werden zusammenfinden. Es ist 50 Jahre her, dass ein Deutscher nicht mit einem Afrikaner gesprochen hätte, wie Sie gerade mit mir sprechen. Wir verstehen uns in vielen Dingen, die Zeichen zeigen in die gleiche Richtung. Man versteht sich. Wenn Sie am Flughafen von Ouagadougou ankommen, finden Sie annähernd den Flughafen von Frankfurt wieder, oder von Dakar, Paris, London… gut. Sie wissen, was Sie erwartet. Man muss hier entlang für die Formalitäten des Zolls, dort für die der Polizei etc. Alles das sind Symbole, Lebensweisen, die dabei sind, sich zu harmonisieren, ohne dass dies unserem Volk auferlegt wird. Asiaten essen mit Stäbchen, Sie essen mit Gabeln und wir essen mit der Hand, wie Sie das übrigens früher auch taten. Nach und nach werden die Hand, das Stäbchen und die Gabel verschmelzen, und heraus kommen wird ich weiß nicht was für ein Instrument.

I.N.: Riskiert man bei all dieser Vermischung nicht den Verlust einiger Dinge, einiger Werte?

T.S.: Wir werden Werte verlieren, wenn wir Dinge aufzwingen. Wenn die Vermischung gewaltsam geschieht, werden wir verlieren. Wenn sie hingegen frei geschieht, wird sie dynamisch sein, und wir werden uns überall das Beste heraussuchen. Die schlechten Dinge werden wir über Bord werfen. Es gibt also keinen Verlust. Wenn es aber durch Nötigung, durch Gewalt geschieht, werden wir gewiss verlieren.

I.N.: Sie tun sehr viel für die Förderung der Kultur. Es ist schon überraschend, ein Filmfestival in einem Land zu sehen, das zu den ärmsten der Welt zählt. Warum organisieren Sie das FESPACO hier in Ouaga ?

T.S.: Die Kultur ist meines Erachtens für ein Volk die beste Art und Weise, der beste Weg, sich auszudrücken, sich selbst zu bestimmen. In der Kultur muss man nichts erzwingen. Musik, Tanz, Malen, Kino, Zeichnen, Töpfern – alle Formen der Künste stellen einen freien Ausdruck dar. Wissen Sie, man kann da nichts auferlegen. Sie singen aus Ihrem Herzen. Das Lied kommt aus dem tiefsten Inneren. Wenn Sie also unter der Dusche stehen, fangen Sie an, ein Liedchen zu trällern, wenn Sie in ihrem Auto sitzen, trällern Sie Lieder, man kann das nicht auferlegen. Sie singen, Sie trällern in diesen Momenten das, was aus ihrem tiefsten Inneren kommt, das ist Ausdruck Ihrer absoluten Freiheit. Und genau darüber können wir die Leute bilden, über das Lied, den Tanz, das Kino – über alles, was die Freiheit des Menschen berührt, können wir die Menschen bilden. Sei es über Hygiene, Alphabetisierung, Arbeitsorganisation, sei es, um Mut zu machen  – die Truppen wurden früher mit Musik an die Front geschickt. Kennen Sie eine Armee ohne Musik? Seit den Römern oder sogar davor? Kennen Sie die Stelle in der Bibel, die Trompeten von Jericho? Wir glauben fest an die Kraft der Künste.

I.N.: Ist es in diesem kulturellen Kontext nicht widersprüchlich, bestimmte traditionelle Strukturen aufbrechen zu wollen? Die traditionellen Führer sind immerhin die Hüter der Weisheit der Vorfahren.

T.S.:  Warum wurde bei Ihnen in Deutschland der Keuschheitsgürtel abgeschafft?

I.N.: Weil er ein Instrument der Unterdrückung war.

T.S.: Gut, einverstanden. Das war eine Wahl, Sie haben sich dazu entschieden. Wir haben uns auch entschieden, was gut für uns ist, und wir schaffen das ab, was nicht gut für uns ist. Wissen Sie, wenn die Wahl schlecht wäre… es gibt da einen kulturellen Reflex eines Volkes, Sie können nicht gegen den Willen eines Volkes entscheiden. Sie können den Leuten sagen, dass es verboten ist, dieses oder jenes Lied zu singen. Einverstanden, auf der Straße werden sie es nicht singen, aber im Verborgenen schon. Sie können eine Religion verbieten, aber die Leute werden sich verstecken, um in dieser Religion zu beten, um sie zu praktizieren. In Ländern, wo versucht wird, pornographische Filme und Bücher zu verbieten, leben die Leute Pornographie im Geheimen aus. Man muss die Leute frei bilden. Und sie akzeptieren das ohne Probleme. Wenn wir also einer Reihe von Praktiken ein Ende gesetzt haben, dann ist dies gelungen, weil unser Volk einverstanden war. Die Beschneidung von Frauen zum Beispiel, wir haben das beendet. Aber, weil unser Volk einverstanden war. Es ist nicht so, dass es keine alten Frauen gäbe, die die Beschneidung noch immer praktizieren wollen. Die gibt es. Aber sie finden keine jungen Mädchen mehr zum Beschneiden. Ihre Arbeit wird also überflüssig.

I.N.: Sie haben den Namen dieses Landes geändert und einige administrative Begriffe durch Worte in nationalen Sprachen ersetzt. Warum?

T.S.: Auch hier, um unsere Identität zu bekräftigen. Ich denke, dass unser Volk die Bedeutung von Burkina Faso besser versteht als die von Obervolta. Was soll das heißen, Obervolta? Man muss zuerst einmal auf eine französische Schule gegangen sein, um zu verstehen, was das heißen soll. Wo doch in der Zeit, als der Name Obervolta eingeführt wurde, bei uns nicht einmal ein Prozent der Leute alphabetisiert war. Und warum Obervolta, warum nicht Untervolta? Warum Volta? Nein, im Gegenteil; wir haben einen Namen ausgesucht, der bei uns eine Bedeutung hat. Und das ist wichtig.

I.N.: Aber bevorzugen Sie nicht immer eine bestimmte Ethnie, eine bestimmte Sprache?

T.S.: Nein. Nein, wir respektieren die statistische Verteilung dieser Sprachen. Das Land heißt Burkina Faso. Das Wort Burkina ist dem Moore entnommen, und die Mossi [SprecherInnen des Moore, A.d.Ü.] sind in diesem Land am zahlreichsten, das ist ein Fakt. Faso kommt aus dem Dioula, die Dioula sind die zweitgrößte Gruppe. Die Einwohner nennen sich Burkinabè, das ist ein Klang aus dem Fulfulde; die Fulbe [SprecherInnen des Fulfulde, A.d.Ü.] sind die drittgrößte Gruppe. Der Ditanyè, also unsere Nationalhymne, trägt einen Namen aus dem Lobi. Es gibt das für alle Sprachen. Sicherlich haben nicht alle hinsichtlich der Zahl der SprecherInnen die gleiche Bedeutung.

I.N.: Was sind ihrer nach die wichtigsten Veränderungen seit dem Beginn der RDP ?

T.S.: Ich mag diese Frage nicht wirklich, weil ich selbst Akteur bin. Ich weiß nicht. Bei uns sagt man: Ein Tänzer kann nicht wissen, ob er gut tanzt. Es sind die anderen, die ihm zuschauen, die sagen können: Du tanzt gut, oder auch, du tanzt schlecht. Gut. Wir sind hier, wir sind Akteure. Aber wir denken in aller Bescheidenheit, dass wir einige Erfolge erzielt haben. Wir haben Schulen gebaut. Wir haben die Einschulungsrate verdoppelt: sie ist von etwa 11, 12 % auf über 23 % gestiegen, und wir werden dieses Jahr sicherlich bei 25 % ankommen. Wir haben eine Gesundheitsstation pro Dorf eingerichtet, und wir sind dabei, das Bewusstsein der Leute zu schärfen, damit sie diese Gesundheitsposten unterhalten. Es gab einen Anfang [unverständlicher Teil], und mittlerweile haben sich die Leute daran gewöhnt, sie wollen diese Gesundheitsversorgung, und wir können uns zurückziehen. Wir haben Staubecken gebaut, mehr als 226, kleine Wasserrückhalte. Wir haben Brunnen gebohrt, damit die Leute Trinkwasser haben. Die Frauen bei uns mussten über 15 Kilometer zurücklegen, um Trinkwasser… nicht unbedingt Trinkwasser, sondern einfaches Wasser, manchmal grünliches, brackiges Wasser, zu holen. Jetzt können sie unter fünf Kilometer Entfernung Wasser finden. Und wir denken, dass wir diese Distanz noch verringern können, auf einen Kilometer, und letztendlich, eines Tages, auf zehn Zentimeter, also die Entfernung zum Wasserhahn. Wir haben Straßen gebaut, Wohnquartiere, in der Stadt wie auf dem Land. Wir haben wirtschaftliche Errungenschaften erreicht. Wissen Sie, dass wir von allen BCEAO -Staaten der ökonomisch stabilste sind? Und das ohne einen einzigen Centime vom IWF , ohne Darlehen von außen. Wir sind stabil. Gut. Das alles sind Erfolge. Ich glaube aber, dass der größte Erfolg in der Veränderung des Bewusstseins besteht. Die Burkinabè haben jetzt Vertrauen in sich selbst. Letztendlich ist es das, was mir am Wichtigsten erscheint. Vergessen Sie die Schulen, die Gesundheitszentren, die Staubecken, die Straßen, die Wohnungen, vergessen Sie all das. Aber vergessen Sie eine Sache nicht: Dass die Burkinabè ein Bewusstsein entwickelt und jetzt Selbstvertrauen haben. Das ist der erste und wichtigste Erfolg.

I.N.: Gestehen Sie auch Misserfolge oder sogar persönliche Fehler ein?

T.S.: Aber ja. Wir haben viele, viele Misserfolge erlebt, viele Fehler gemacht. Viele, sehr viele. Ich sagte ja, dass wir jeden Tag Fehler begehen, aber der Unterschied ist, dass wir vorher hundert Fehler begingen und keinerlei Erfolge verzeichneten. Jetzt begehen wir vielleicht 10.000 Fehler, aber wir erzielen zwei, drei, vier kleine Erfolge. Wir kommen voran. Unsere Fehler sind so zahlreich, dass ich sie gar nicht aufzählen kann. Das macht mich traurig, dass wir so viele Fehler begangen haben. Zum Beispiel in der Einschätzung der Menschen oder der Situation. Wir selbst verzagen manchmal, wir sind ungeduldig oder intolerant. Ich nehme das alles auf meine Kappe, weil ich der Präsident bin. Diese Fehler, das bin ich. Das macht mich sehr oft traurig.

I.N.: Bemerken Sie Ihre Fehler immer rechtzeitig?

T.S.: Das ist noch ein Fehler, den wir machen. Manchmal schaffen wir es nicht, sie rechtzeitig zu erkennen. Aber das Wichtigste ist, dass wir akzeptieren, dass wir diese Fehler begehen. Es ist unwichtig, wer diese Fehler begeht, wichtig ist, dass wir sie als unser aller Fehler akzeptieren.

I.N.: Die Ernährungssicherheit ist Ihr oberstes Ziel. Wie können Sie diese erreichen, wenn es nicht genug regnet?

T.S.: Zunächst einmal durch den Bau von Staubecken. Wir brauchen viele Staubecken, große und kleine, und das ist es, was wir machen. Sehen Sie, wir haben ein Wasserministerium geschaffen, das sich ausschließlich um Wasser kümmert. Und das ist für die Ernährungssicherheit. Wir können uns nicht ausschließlich auf die Niederschläge verlassen. Wir brauchen also viele Regenrückhaltebecken. Außerdem versuchen wir, unsere Böden zu regenerieren und aufzuforsten, das versuchen wir. Wir wollen dieses Jahr eine Kampagne machen, um den „grünen Gürtel“ im Norden des Landes zu schaffen, und wir werden mehrere tausend Menschen dorthin bringen, um Bäume zu pflanzen. An dieser Stelle möchte ich einen Aufruf an Ihre Leser loswerden. Wir brauchen die Unterstützung aller, die uns helfen wollen, sei es mit Geld, Saatgut, Zäunen, Gießkannen, Ausrüstung, denn wir werden dort Camps errichten, und wir müssen die Leute ernähren. Oder auch zur Gesundheitsversorgung, wenn sie im Feld sind. Alle, die gerne selbst Bäume mit uns pflanzen möchten, sind herzlich willkommen.

I.N.: Bäume pflanzen ist schnell gemacht. Aber wie wollen Sie diese Bäume schützen?

T.S.: Wir müssen Maßnahmen gegen umherziehendes Vieh ergreifen, gegen missbräuchliche Abholzung [und gegen die Buschfeuer, Anm. d. Ü]. Das ist es, was wir die „drei Kämpfe“ nennen.

I.N.: Ich sehe keine wirklichen Strafen für Leute, die das nicht respektieren.

T.S.: Oh, es hat viele Strafen gegeben, und wir wurden dafür sogar kritisiert, man meinte, wir seien zu streng zu den Leuten. Mittlerweile haben sie sich daran gewöhnt. Natürlich behaupte ich nicht, dass jetzt alle diszipliniert sind. Aber, Sie kennen ja unser Land: Vor ein paar Jahren hat man das Vieh in den Straßen von Ouagadougou umherziehen sehen; mittlerweile sieht man dies nicht mehr. Weil wir unseren MitbürgerInnen erlaubt haben, alle ungehüteten, herumstreunenden Tiere einzufangen, zu töten und zu essen. Das ist der einzige Weg, denn diese ganzen Tiere fressen die Bäume, und wir sind gezwungen, uns um Milliarden zu verschulden, um wieder aufzuforsten. Das muss aufhören! Wir mussten Maßnahmen ergreifen, das war sehr hart und wurde scharf kritisiert. Mittlerweile läuft es.

I.N.: Manche Leute, vor allem in der Stadt, sorgen sich wegen des Bieres. Sie wollen das Bierbrauen aus importiertem Getreide verbieten. Aber wie wollen Sie [lokale, Anm. d. Ü.] Hirse zum Bierbrauen verwenden, wenn es nicht mal genug für die Ernährung gibt?

T.S.: Weil Bier zuerst einmal keine Priorität ist. Was ist wichtiger, Hirse zum Essen oder Hirse zum Trinken? Ich glaube, dass man zuerst die Leute ernähren muss. Dann kann man sehen, was aus denen wird, die Bier trinken wollen. Nicht alle Burkinabè trinken Bier, aber alle Burkinabè essen jeden Tag. Es wird Bier geben unter der Bedingung, dass die Menschen sich zuerst satt gegessen haben, und dass es aus burkinischer Hirse gemacht ist. Kann denn wirklich das Schicksal der Biertrinker die Priorität eines ernsthaften politischen Regimes sein? Wie viele sind das denn in Burkina? Also.

I.N.: Sie haben von der Modernisierung der Landwirtschaft gesprochen. Sie müssen dazu Maschinen, Dünger etc. importieren. Wird sich Ihre Abhängigkeit von der Außenwelt nicht vergrößern?

T.S.: Ja ja. Das stimmt. Aber wir kämpfen gegen die Einfuhr von Düngern, chemischen Düngern, und bauen die Verwendung organischer Dünger aus. Der ist reicher. Chemische Dünger laugen die Böden aus, sie werden von ihnen nicht erhalten. Wenn kein organisches Material zugeführt wird, kein organisches Milieu existiert, in dem die Elemente agieren können, verarmen Sie die Böden. Sie können chemischen Dünger auf Sand werfen, und es passiert gar nichts. Das ist kein organisches Material. Sie können Dünger auf Felsen werfen, und es passiert gar nichts, wenn da kein organisches Material ist. Unser Volk, unsere Bauern lernen gerade die Herstellung von organischem Dünger. Modernisierung meint nicht unbedingt den Einsatz von Traktoren, sondern auch von Pflügen. Wir versuchen, diese Pflüge hier zu bauen, und wir suchen im Übrigen Partner, um aus dem Blech von alten Unfallwagen Pflüge herzustellen; um kleine Schmelzöfen zu bauen und Pflüge zu produzieren. Sie könnten also in Deutschland schauen, wo Sie ja Hochöfen haben, ob Leute herkommen und kleine Öfen bei uns bauen können. Und da die Pflüge von Tieren gezogen werden, spielt auch die Viehzucht eine Rolle. Hier besteht also eine Verbindung zwischen Viehzucht und Ackerbau, um die Böden zu erhalten.

I.N.: Man wartet noch immer auf die angekündigte Agrarreform…

T.S.: Ich gestehe unsere administrative Schwerfälligkeit ein. Noch einer unserer Misserfolge, aber wir werden das korrigieren, wenn es auch noch einige Monate dauern kann.

I.N.: Die Befreiung der Frau ist in Burkina ein großes Thema. Ich bin darüber sehr glücklich, aber sicherlich sind das nicht alle Ehemänner, deren Frauen auf Versammlungen gehen, anstatt zu kochen. Was machen Sie mit diesen Männern?

T.S.: Also, ich versuche zuerst, sie zu verstehen. Es ist leider überhaupt nicht selbstverständlich, dass ein Mann akzeptiert, dass seine Frau um 16 oder 17 Uhr ausgeht und erst spät heim kommt; das schockiert uns, das bringt uns auf. Wir sind ein einer Gesellschaft aufgewachsen, in der der Mann über der Frau steht, so wurde es uns von Kindheit an beigebracht. Unsere Mütter haben uns so erzogen. Es liegt also eine Menge sehr schwieriger Arbeit vor uns. Wir versuchen, auch den Frauen zu verstehen zu geben, dass sie die Männer respektieren müssen, damit diese Situation glimpflich abläuft. Wir dürfen sie nicht überrumpeln. Das erfordert eine Menge Taktgefühl von beiden Seiten, es ist nicht leicht, und ich muss sagen, dass wir manchmal Erfolge sehen, aber oft auch jämmerliche Misserfolge. Und wir müssen darauf bestehen, bestehen, bestehen. Das ist überhaupt nicht leicht.

I.N.: Sie sind gegen die Arbeitsteilung, die die Frauen oft benachteiligt. Wie organisieren Sie ihren eigenen Haushalt?

T.S.: Also ich gestehe, dass ich nicht weiß, ob ich in meinem eigenen Haushalt ein gutes Beispiel abgebe. Wir machen beide alles, meine Frau macht den Haushalt und ich auch. Wir sind beide Beamte, sie geht zur Arbeit, ich auch, wir kommen abends nach Hause, aber vor allem bestehe ich darauf, dass unsere Kinder zumindest nicht beigebracht bekommen, dass ein Junge über einem Mädchen steht. Wir haben zwei Söhne, aber keine Tochter. Es gibt aber Mädchen bei uns, Cousinen, Kinder von Freunden, die wir bei uns aufgenommen haben, die wir adoptiert haben, und wir wollen, dass sie die gleichen Rechte haben, ohne Unterscheidung der Geschlechter. Ich glaube, das ist das Wichtigste. Es sind die Frauen, die die Welt verändern können. Wenn jede Frau ihrem Kind beibringt, dass die Geschlechter gleich sind, ist das gut. Im Allgemeinen sind es aber die Mütter selber, die sagen: Du bist ein Junge, du musst dies oder das tun, du bist ein Mädchen, da hast du Puppen.
 
I.N.: Leider ja.

T.S.: Leider ist das so.

I.N.: Reden wir über die Beamten. Haben Sie keine Angst vor diesen potenziellen Feinden? Die Maßnahmen der Regierung haben sie schwer getroffen, und sie sind sehr unzufrieden.

T.S.: Das stimmt, sie sind unzufrieden, und ich kann das gut nachvollziehen. Ich bin selbst Beamter und verstehe ihre Situation. Sie hatten zuvor sehr hohe Gehälter. Heute werden sie gebeten, mit dem gesamten Volk zu teilen. Sie haben etwas verloren. Man muss aber eine Wahl treffen, nicht wahr? Entweder versuchen wir, die Beamten zufrieden zu stellen – es sind etwa 25.000, sagen wir 0,3 % der Bevölkerung, nicht mal – oder wir versuchen, uns um alle anderen zu kümmern, die sich nicht mal Nivaquine oder Aspirin leisten können und einfach sterben, wenn sie Tetanus oder irgendwas anderes bekommen. Die Beamten wissen gar nicht, was Ernährungssicherheit bedeutet. Sie wissen nicht, was Trockenheit ist. Aber wie viele Burkinabè sind schon wegen der Trockenheit gestorben? Sie sind sehr zahlreich! Wenn man diese Dinge in Betracht zieht, muss man dafür eine Lösung finden. Das wird für die Beamten eben etwas schwierig, und ich finde es vollkommen normal, dass sie unzufrieden sind. Ich finde das nicht schlimm, sondern verständlich. Deshalb betone ich in all meinen Reden, dass wir sie verstehen müssen, und ihnen nach und nach dies begreiflich machen: „Ihr habt zu essen, weil Ihr Beamte seid. Aber wenn es dem Volk schlecht geht, wenn es weiterhin in seinem Elend alleine gelassen wird, dann wird dieses Volk Euch eines Tages daran hindern, ungestört zu essen. Es wird zuerst an Eure Tür kommen, und dann wird es sie aufbrechen, in Euer Haus eindringen, alles zerschlagen und Euch zwingen, Euer Essen zu teilen.“ Das ist ebenfalls schlecht. Die Lösung, die wir gerade vorschlagen, ist, auch wenn sie etwas schwierig ist, besser als die andere Lösung, die sich eines Tages ihren Weg bahnen könnte: die Gewalt.

I.N.: Was bedeutet es für Sie, Staatschef zu sein?

T.S.: Viel Verantwortung, weil man für alles zuständig ist. Man ist für das Glück all seiner Landsleute verantwortlich, muss dafür sorgen, dass jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde kein einziger von ihnen traurig ist, und das ist schwierig. Das ist sehr schwierig. Dieses Glück zu erreichen bedeutet, für alles verantwortlich zu sein. Die Menschen sind nicht mit allem einverstanden, was Sie ihnen vorschlagen. Sie können eine Idee haben, die Sie selbst für richtig und gut halten. Wenn alle mitmachen, gehen wir in Richtung Glück. Aber es machen eben nicht alle mit. Während Sie zu den Leuten sagen: „wir wollen in diese Richtung gehen“, werden einige in die andere Richtung laufen. Nehmen wir das Beispiel Gesundheit. Ich könnte mehrere Millionen, vielleicht sogar Milliarden des Gesundheitsbudgets einsparen, wenn die Leute es so machten, wie ich es mir wünschen würde. Wenn sie keinen Alkohol mehr trinken würden, denn der ist schlecht für die Gesundheit. Wenn sie keine Zigaretten mehr rauchen würden, denn die sind schlecht für die Gesundheit! Alle Mediziner dieser Welt haben das bewiesen. Aber werden die Leute das akzeptieren? Nein. Sie trinken, sie werden krank, sie müssen behandelt werden. Sie trinken, sie sind blau, sie bauen Unfälle, sie verletzen sich, sie müssen behandelt werden. Sie fehlen bei der Arbeit, das sind viele Arbeitstage. Das alles sind Probleme. Sie trinken und können ihre Kinder nicht mehr gut erziehen. Die Kinder arbeiten nicht gut in der Schule, sie werden zu Gaunern, Banditen, Dieben. Das sind Probleme. Sie trinken, sie vergessen ihre Frauen. Das fördert die Prostitution, das ist auch wieder schlecht für die Gesellschaft. Dies ist ein Beispiel der Probleme, die man lösen könnte, wenn alle einverstanden sind. Aber es werden nicht immer alle einverstanden sein. Es gibt solche, die von Zeit zu Zeit ein Bier trinken gehen, vielleicht sogar ein importiertes, und schon entstehen Probleme.

I.N.: Wissen Sie, was das Volk über Sie denkt?

T.S.: Ich weiß nicht alles, was das Volk über mich denkt. Es ist schwierig für mich, das zu wissen. Aber ich glaube, dass wenn man sein Volk liebt, wenn man Interesse an seinem Volk hat, man zumindest in Grundzügen wissen sollte, was es denkt.

I.N.: Aber „mit der Masse der Bevölkerung leben“; was bedeutet das von Seiten des Mannes, der im Präsidentenpalast lebt?

T.S.: Der Mann im Palast lebt dort, weil er aus Gründen des Protokolls und der Sicherheit auf diesen Rahmen angewiesen ist. Warum auch nicht? Aber man muss sich anstrengen, zwar im Präsidentenpalast zu sein, aber gleichzeitig seinen Geist außerhalb des Palastes zu haben. Deswegen fahre ich oft in die Provinzen, um Leute zu treffen und mit ihnen zu diskutieren. Ich muss den Menschen gegenüber zugänglich bleiben, um bestimmte Dinge zu wissen und zu verstehen. Als Führungsperson muss man sich im zehnten Stock aufhalten, weil man dort sehr weit sehen kann, aber von Zeit zu Zeit muss man auch ins Erdgeschoss gehen und direkt miterleben, was auf der Straße los ist.

I.N.: Was hat sich in Ihrem Leben geändert, seit Sie Präsident sind?

T.S.: Ich habe eine Wirklichkeit entdeckt, die ich noch nicht kannte, höchstens in der Theorie. Ich glaube, ich habe gelernt, viel toleranter zu sein und zu verstehen, dass die Menschen nicht alle gleich sind. Die Menschen sind sogar sehr unterschiedlich. Eine Idee kann richtig sein, aber deshalb muss sie noch lange nicht von allen akzeptiert werden. Um diese Idee zu akzeptieren, braucht jeder eine eigene Erklärung, die manchmal sehr unterschiedlich sein kann. Es gibt bei uns ein Sprichwort, das besagt – ich kannte dieses Sprichwort, und heute weiß ich, das es stimmt: Um eine Herde zu führen, braucht der Hirte einen einzigen Stab. Er kann eine Herde von hundert Kühen, tausend Kühen, zehntausend Kühen führen. Um aber ein Volk zu führen, braucht man für jeden einzelnen passende Spielregeln. Manche wollen lange Regeln, manche wollen kleine Regeln, andere wollen große, flexible, sichere, knifflige oder nicht knifflige… Letztendlich muss man sich an alle anpassen. Man muss also mit jedem in seiner Sprache sprechen. Ich müsste ein einziges Ziel haben: acht Millionen Reden, um den Diskurs an alle anzupassen! Das ist nicht leicht.

I.N.: Wie sehen Sie ihre eigene Zukunft?

T.S.: Meine eigene Zukunft? Die sehe ich eng mit den Volksmassen verbunden. Ich werde glücklich sein, wenn die Leute es sind. Wenn ich das unglücklicherweise nicht erreiche, sehe ich eine sehr finstere Zukunft.

I.N.: Haben Sie Angst vor einem Staatsstreich?

T.S.: Ich denke nicht daran. Das kann passieren, wohlgemerkt. Aber ich ziehe es vor, nicht daran zu denken. Ich sage mir, Staatstreich oder kein Staatsstreich, die Lösung liegt in der Fähigkeit des Volkes, uns zu beschützen, sich mit uns zu identifizieren. Eines Tages wird vielleicht jemand aus einer Menschenmasse heraustreten und auf den Präsidenten schießen, und dann ist er tot. Das kann jederzeit passieren. Aber das Wichtigste ist doch, dass das Volk auch jederzeit jeden von uns braucht: die Führer, die anderen, das Volk braucht jeden von uns, das ist wichtig. Wir machen eine nützliche Arbeit. Wir schießen nicht ständig Tore, aber jeder in der Mannschaft ist wichtig. Es gibt einen Beckenbauer, die anderen, alle sind da, und alle sind wichtig.

I.N.: Man hört seit langem und ständig Gerüchte über Unstimmigkeiten im CNR .

T.S.: Ja, diese Gerüchte kursieren ständig, und das bereitet uns sehr, sehr viel Kummer, und wir müssen das korrigieren. Aber wissen Sie, es ist auch normal, dass es diese Gerüchte gibt, denn die Leute sind es nicht gewöhnt, dass die Personen an der Spitze des Staates sich verstehen. In unserem Land, bei unseren Nachbarn, hat man generell gesehen, dass die Leute nach einem, höchstens zwei Jahren anfangen, sich gegenseitig eliminieren zu wollen. Wir denken also, wenn die anderen solche Pläne hatten, warum sollte es bei uns anders sein. Es ist das gleiche wie mit der Ehrlichkeit. Die Politiker haben sich daran gewöhnt, das Geld des Volkes veruntreuen. Die Leute können sich gar nicht mehr vorstellen, dass das bei uns nicht so ist.
In einem Land wie dem unseren ist man nicht daran gewöhnt, einen Mann und eine Frau lange Zeit zusammenarbeiten zu sehen, ohne dass sie eine andere Form der Beziehung hätten als den Respekt voreinander in der Arbeit. Bei Ihnen in Europa ist das anders, aber wir sind daran nicht gewöhnt. Bei uns ist das verwirrend, einen Mann und eine Frau zusammenarbeiten zu sehen, und es kursieren viele Gerüchte. Sogar bei Ihnen in Europa denkt man, dass, wenn zwei Männer um die politische Macht kämpfen, einer den anderen ausschalten muss. Bei uns denkt man das auch. Man versteht also nicht, dass das bei uns nicht passiert. Wenn Sie das nicht erklären, dann nähren die Gerüchte sich selbst und liefern am Ende ihre eigenen Erklärungen, um die Leere auszufüllen. Das ist normal.

I.N.: Möchten Sie ein letztes Wort an unsere deutschen LeserInnen richten?

T.S.: Ich würde das gerne auf Deutsch sagen, und ich entschuldige mich, dass ich nicht gut Deutsch spreche. Ich werde es in Französisch sagen. Was uns auf jeden Fall am meisten beschäftigt und interessiert, ist, dass das deutsche Volk in seiner Gesamtheit das burkinische Volk kennenlernen kann, die afrikanischen Völker insgesamt, und dass wir es ebenfalls kennenlernen können. Dass die negativen Gefühle, die zwischen uns entstehen konnten, zerstreut werden. Deutschland ist das Land von Hitler, so wird es gesehen, das macht seine Bekanntheit aus. Man kann das aber verändern, auf dass Deutschland das Land der großen Sportler wird, dass Deutschland auch das Land der fortschrittlichen Technik wird, das Land, in dem die Umwelt respektiert wird. Man kann auch diese Wahrnehmung erreichen. Sie denken über uns, dass Afrika der Kontinent der Wilden ist, der Sklaven, wo die Menschen mit den Löwen und Hyänen im Busch leben. Man kann es aber auch so sehen, dass Afrika der Kontinent der Gastfreundschaft ist, in dem die Menschen anderen Menschen gegenüber aufgeschlossen sind und sie herzlich empfangen, ohne dass dies in einen Überlegenheitskomplex verdreht wird. Ich bin Ihnen nicht unterlegen, weil ich Ihnen meine Tür geöffnet habe; ich habe Ihnen Respekt entgegengebracht. Von hier ausgehend können wir zusammenarbeiten, Formen einer engen, intensiven und fruchtbaren Kooperation anstoßen. Und die Deutschen werden uns das vorwerfen können, was sie uns vorzuwerfen haben, denn ich kann mir vorstellen, dass es da einige Dinge gibt, und wir werden ebenfalls den Deutschen das vorwerfen können, was wir ihnen vorzuwerfen haben. Und zwar so, dass das keine Animositäten zwischen uns heraufbeschwört, weil es objektive Kritik ist, die uns beim Vorankommen hilft.

I.N.: Ich danke Ihnen vielmals.

T.S.: Dankeschön. nnDank an Inga Nagel und Antoine Souef dafür, dass sie die Publikation dieses Interviews ermöglicht haben.

Inga Nagel hat das gesamte Interview als Audiodateien wiedergefunden. Das gesamte Interview kann hier auf Französisch nachgehört werden: http://www.thomassankara.net/spip.php?article921  

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