Tidiane Kassé: Die Migrationsbewegung nach Europa wird niemals aufhören
Migration ist seit jeher ein wichtiger Bestandteil der afrikanischen Gesellschaften. Bis heute ist sie mehrheitlich ein innerafrikanisches Phänomen. Nicht wenige derer, die Richtung Europa aufbrechen, verschwinden auf immer in den Fluten der Meere oder den Wüsten der Sahara – ein unsichtbares Drama, das nicht nur auf das unerträgliche Schweigen afrikanischer Regierungen hinweist, sondern vor allem auch auf das Scheitern der europäischen Grenzpolitik.nIn manchen afrikanischen Kulturen gehört das Reisen zur Initiation. Man wird nicht erwachsen, solange man seine Familie nicht verlassen hat, um in die Ferne zu gehen, wo man andere Menschen und Kulturen entdeckt, und die Realitäten der Welt kennenlernt. Es geht darum, sich vom Komfort und der Fürsorge der Mutter und vom Schutz des Vaters zu lösen. Zu gehen bedeutet, sich zu beweisen – zurückkehren, die Seinen mit dem Wissen zu bereichern, das man in einer anderen Welt erlangt hat. nDiese Kultur ist charakteristisch für die Soninke. Diese bevölkern ein Gebiet, das sich über Teile des Senegals, Malis und Mauretaniens erstreckt. Hier sind die Dörfer leer. In den Häusern sind nur manchmal das Lachen von Frauen und die Schreie von Kindern zu hören. Die Männer sind fortgegangen. Sie sind in andere Teile der Welt ausgewandert. Die Soninke gehören zu den mobilsten Bevölkerungsgruppen Afrikas – schon seit der Zeit des ghanaischen Reiches (8. bis 11. Jahrhundert). nIn Diawara, einem Soninke-Dorf 800 Kilometer von Dakar entfernt am Ufer des Senegalflusses gelegenen, hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung die französische Staatsbürgerschaft. Fast alle sind Rückkehrer*innen. Nach einem Aufenthalt in Europa oder anderen afrikanischen Ländern haben sie sich wieder in ihrer Heimat niedergelassen. Die noch nicht Zurückgekehrten haben für ihre Familien luxuriöse Residenzen gebaut. nDie Häuser in Diawara strahlen einen unerwarteten Komfort aus. Fernseher, Kühlschrank, Klimaanlage etc. – alles findet sich hinter ihren Mauern. So weit von Dakar entfernt in einer ländlichen Gegend, in der die Armutsrate 70 Prozent beträgt, erwartet man so etwas kaum. nJeden Monat schicken die Ausgewanderten aus Frankreich, Deutschland, Italien oder anderen Ländern Geld für die Lebenshaltung. Gesundheitskosten, Schulgeld, etc. – die Familie wird rundum versorgt. Bei den Soninke misst sich der Erfolg der Migration am Wohlstand, in dem die zurückgelassene Familie leben kann. nDie Summe der weltweiten Rücküberweisungen von Migrant*innen ist erheblich. 2015 schätzte die Weltbank sie auf 601 Milliarden US-Dollar, davon gingen 441 Milliarden in „Entwicklungsländer“. Allein in den Senegal wurden in diesem Jahr zwei Milliarden US-Dollar überwiesen – mehr als die offizielle Entwicklungszusammenarbeit (ODA) im selben Zeitraum dort ausgab.
Dieses Geld kommt nicht nur den Familien zugute, es trägt auch zur kommunalen Entwicklung bei. Seit der Umsetzung der finanziellen Umstrukturierungspläne des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in den 1980er Jahren und den Strukturanpassungspolitiken der 1990er Jahre wurden die Sozialsysteme afrikanischer Staaten kaputtgespart. Die Länder bauten keine Krankenhäuser und Gesundheitszentren mehr und noch weniger Schulen als zuvor – stattdessen wurde im großen Stil privatisiert und massenhaft entlassen. nDiese Politik ändert sich heute allmählich. Auf dem afrikanischen Kontinent bewegen sich die Wachstumsraten seit ungefähr zehn Jahren um die Fünf-Prozent-Marke, aber die Schäden der Vergangenheit sind unermesslich. Der Wiederaufbau bleibt schwierig. nDie Mutter aus der Armut holen nJahrzehntelang hat die Bevölkerung ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Als die Regierungen sich unter dem Druck westlicher Länder und der internationalen Finanzinstitutionen ihrer sozialen Verantwortung entzogen, wurde die kommunale Entwicklung zur Angelegenheit der Emigrierten. Sie waren es, die Schulen und Gesundheitszentren errichteten, Brunnen bohrten und Wasserspeicher finanzierten. nWer sich heute auf den Weg ins Exil macht, den treibt die gleiche Hoffnung an. Er hat gesehen, wie ein Nachbar oder Verwandter mit dem im Ausland verdienten Geld „seine Mutter aus der Armut holte“. Dies ist das Leitmotiv derer, die sich auf den Weg durch die Wüste machen, um über Libyen oder Marokko nach Europa zu gelangen. nDie meisten kennen nur den Ort, von dem sie aufbrechen – ein genaues Ziel haben sie nicht. Sie werden sich dort niederlassen, wo die Solidarität ihnen Asyl bietet. Viele verirren sich und verdursten in der Wüste oder ertrinken im Mittelmeer. Aber niemand kann sich vorstellen, „mit leeren Händen“ zurückzukehren. Lieber sterben, als sich so den Blicken der Zurückgelassenen zu stellen. nDiese Migrationsbewegungen sind nichts Neues. Migration prägt die afrikanischen Länder seit langem und ist Teil ihrer Geschichte. Bis in die Zeit der Unabhängigkeiten war das Ziel allerdings nicht Europa, sondern andere Länder auf dem afrikanischen Kontinent. nSenegales*innen zog es besonders in die westafrikanische Elfenbeinküste und die Demokratische Republik Kongo (ehemals Zaïre) in Zentralafrika. Noch immer finden zwei Drittel der Migration innerhalb des afrikanischen Kontinents statt. Besonders beliebt sind Ölländer wie Gabun und Äquatorialguinea, wo das „schwarze Gold“ immer noch Träume nährt, trotz der Razzien und Abschiebungen. nDie Migration in den globalen Norden macht weniger als ein Drittel der afrikanischen Auswander*innen aus. Dennoch waren viele Tausend Afrikaner*innen unter den 700.000 Migrant*innen, die 2015 laut der Internationalen Organisation für Migration das Mittelmeer nach Europa überquerten. nIn den 1970er Jahren begannen die Migrationsbewegungen nach Europa sich zu intensivieren. Mitten im wirtschaftlichen Aufschwung brauchten die europäischen Länder dringend gering qualifizierte Arbeitskräfte. Das Bild des Gastarbeiters in der Autoindustrie oder des Schwarzen Straßenkehrers in den Straßen von Paris entstand. Bis Mitte der 1980er Jahre benötigten die Bewohner*innen der ehemaligen Kolonien Frankreichs kein Visum, um dort einreisen zu können. nIn dieser Zeit der Bewegungsfreiheit blieb der Fluss an Menschen konstant. Weil sie sicher sein konnten, dass sie in ihre Länder zurückkehren und danach erneut in das Zielland reisen könnten, blieben die Migrant*innen nur während ihrer Arbeitszeiten in Europa. In den Ferien besuchten sie ihre Familie, Familiennachzug war ein überflüssiger Luxus. nOhne Aussicht auf Arbeit nDie Schließung der europäischen Grenzen geschah zu einer Zeit, in der die afrikanischen Ökonomien in eine Krise gerieten. Die von der Weltbank und dem IWF angewiesene wirtschaftliche und fiskalische Restrukturierungspolitik zeigte ihre Wirkung. Es folgten die Strukturanpassungsprogramme. Destabilisiert begannen viele Staaten zusammenzubrechen. Die Universitäten bildeten Absolvent*innen ohne Arbeit oder Aussicht auf solche aus. Unternehmen wurden geschlossen, die Zahl der Arbeitslosen stieg. Für hunderttausende junger Menschen ohne Perspektive wurde die Migration zum einzigen Ausweg. So begann der Strom an Menschen, sich in den 1990er Jahren zu verstetigen.
Das hinter seinen Grenzen abgeschirmte Europa lebte nur eine Illusion von Sicherheit. Die Grenzen können niemals undurchlässig sein. Seit neue Beschränkungen der Visumsvergabe sie blockieren, haben afrikanische Migrant*innen alternative Wege gefunden. Durch Marokko führend sind Ceuta und Melilla die Tore zu einer neuen Hoffnung geworden. nDie Statistiken des Todes berühren uns nicht mehr nIm Senegal begann die Geschichte der Bootsreisen nach Spanien anekdotenhaft. Auf der Suche nach Fischbeständen, die an der senegalesischen und mauretanischen Küste immer seltener wurden, fanden sich Fischer plötzlich in spanischen Gewässern wieder – tausende Kilometer von ihrem Abfahrtsort entfernt. nIhre Geschichte sprach sich herum und andere Fischer kamen auf die Idee, sich als Fährleute zu verdingen. Sie vergrößerten ihre Pirogen, ließen die Abenteuerlustigen zu Hunderten einsteigen und ermöglichten die undokumentierte Auswanderung. Diese Form der Emigration erreichte zwischen 2007 und 2009 ihren Höhepunkt. nHunderte Menschen starben, verloren auf dem Meer. Den Augen der Welt zeigte sich der Skandal im Jahr 2006, mit Booten, deren menschliche Ladung zur Hälfte oder sogar komplett in den Fluten versank und verschwand. Makabre Geschichten begleiteten die Odysseen. Delirium und Wahnsinn während der Tage auf dem Meer, Internierungslager für diejenigen, die den Zielort erreichten, und die erzwungene Rückkehr in die Herkunftsländer nach einem gescheiterten Abenteuer – ohne Zugang zu den grundlegendsten Rechten.
Die durch die Wüste reisen, kennen keinen anderen Ausweg. Sie passieren die Sahara durch Mali und den Niger in den Händen von Schlepper*innen. In Libyen oder Tunesien warten sie auf die Überfahrt, die sie auf die andere Seite des Mittelmeeres bringen soll. Die Odyssee kostet zwischen 1.000 und 2.000 Euro und wird finanziert durch die von der Mutter ergatterte Tontine , den Verkauf eines Landtitels durch den Vater oder auf dem Markt veräußerte Schmuckstücke. nIn der aktuellen Zeit, in der die makabre Anzahl der Dramen gleichbleibend hoch ist, herrscht in der öffentlichen Debatte eine gewisse Müdigkeit vor. Im Bemühen, sie zu verstehen, berühren uns die Statistiken nicht mehr. Tausend Tote sind wie ein*e Tote*r. Der gestrandete Leichnam eines Kindes oder ein von den Wellen an Land gespülter Körper einer schwangeren Frau schockieren uns kaum noch. nDie Toten haben kein Gesicht, die Zahlen bleiben abstrakt. Nur wenn das Drama eine Familie oder ein Dorf direkt betrifft, gehen die Emotionen in seltenen Fällen über ein Kopfnicken hinaus. Die Geschichten bleiben zu allgemein, um die persönlichen Dramen nachzuvollziehen und daran anzuknüpfen. Eine im Mittelmeer verschwundene Eritreerin, Syrerin oder Irakerin erregt auf dieser Seite der Welt keine große Aufmerksamkeit. Dies ist vielleicht der Grund, warum Solidarität gegenüber diesen Skandalen selbst im Süden so schwer zu finden ist. nDas Schweigen der afrikanischen Staaten nHäufig ist Migration ein unsichtbares Drama. Man spricht nicht von dem weggegangenen Sohn, ehe die Nachricht seines Erfolgs nicht unzweifelhaft bestätigt wurde. Einige warten so immer noch auf Menschen, die seit mehr als zehn Jahren verschwunden sind, in der Hoffnung, eines Tages ein Lebenszeichen zu bekommen. nAuf einer globaleren Ebene weichen die afrikanischen Staaten der Frage aus, die ein Zeichen ihres eigenen Versagens ist. Die jungen Menschen, die ihr Leben bei der Flucht aufs Spiel setzen wie im russischen Roulette, deuten auf die Schwäche der Arbeitsmarktpolitik und die Hoffnungslosigkeit hin, die das Leben einer perspektivlosen und größtenteils jungen Bevölkerung auszeichnet.
Als sich vor zehn Jahren Länder wie der Senegal mit europäischen Regierungen verbündeten, um das Frontex-Programm umzusetzen, schrien die Auswanderer Verrat. Gendarmen patrouillierten an den Stränden, um die Abreise der Pirogen zu verhindern. nDer Strom an Menschen ist dennoch nicht versiegt. Er hat sich verändert und läuft nun über die Wüstenrouten. Junge Leute brechen auch weiterhin auf in den Norden. Solange in Libyen das Chaos vorherrscht, gehen sie davon aus in der Unordnung die größte Chance auf den Aufbruch in ein neues Leben zu haben. nIm April 2015 meldete das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) 1.700 Tote im Mittelmeer nur für diesen einen Monat. Das Schweigen der Afrikanischen Union zu diesem Drama wurde mit Empörung aufgenommen. Die seltenen Stellungnahmen aus afrikanischen Hauptstädten beschränkten sich auf Äußerungen des Bedauerns und der Verurteilung. nNiemand bot Lösungen an. Alle warteten auf den EU-Afrika-Gipfel auf Malta im November 2015, um das Problem der irregulären Migration zu besprechen. Wieder einmal hing das Schicksal des Kontinents vom Wohlwollen anderer ab. Die EU hat 1,8 Milliarden Euro versprochen, vorbehaltlich der Beteiligung ihrer Staaten, aber diese Milliarden sind keine Lösung. Sie werden versiegen, doch das System, das Menschen aus der Gesellschaft ausschließt und ins Elend treibt, wird fortbestehen. Und der junge Soninke wird immer noch daran denken, seine Heimat zu verlassen. Sei es in Richtung Europa oder innerhalb Afrikas – er wird sich auf seinen Initiationsweg machen. nAus dem Französischen von Karenina Schröder, Mitarbeit Friederike Claußen.nTidiane Kasse lebt und arbeitet als Journalist in Dakar, Senegal. Er ist Chefredakteur der französischen Ausgabe des panafrikanischen Nachrichtenportals Pambazuka News.n
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