Birgit Morgenrath: Rezension 50 Jahre Unabhängigkeiten – Eine (selbst)kritische Bilanz

In der WDR 3 Sendung "Resonanzen" vom 4.3.2011 rezensierte die Journalistin Birgit Morgenrath das Buch "50 Jahre afrikanische Un-Abhängigkeiten – Eine (selbst-)kritische Bilanz". Hier können Sie den Beitrag anhören oder lesen.n|+| Audio-Beitrag runterladen und anhören (mp3)nIm letzten Jahr feierten 17 afrikanische Länder den 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit – ein Grund zum Feiern – aber auch Anlass zum kritischen Nachdenken. Denn häufig haben sich die Hoffnungen auf Veränderungen nicht erfüllt. Die kleine, aber feine, in Berlin und im kamerunischen Douala ansässige „Stiftung AfricAvenir International“, die sich seit Jahren engagiert dem Gedanken- und Kulturaustausch widmet, hat nun ein Buch herausgebracht, das „die Vielfalt und Vielstimmigkeit, mit der die Unabhängigkeiten in Afrika analysiert und diskutiert werden“ dokumentieren soll.

Autorin:
Das Buch verleitet augenblicklich zum Blättern und Schmökern: Der Buchdeckel steht voller Zitate, aus dem sich bei genauerer Betrachtung leicht rot der afrikanische Kontinent abhebt. Bunte Ränder an den Seiten, farbige Schrift, Farbfotos in der modernen, leicht unscharfen Doppeloptik, groß gedruckte Gedichte … das Buch verspricht weitere Überraschungen. Man kann nicht widerstehen.

Musik: Indépendence Cha Cha

Autorin:
Dabei fällt die selbst-kritische Bilanz nach 50 Jahren afrikanische Unabhängigkeiten hart und schonungslos aus. Der wind of change aus den 60erJahren, der – Zitat – „eine neue Fahne der Menschen in der Luft wehen“ ließ, wurde zum „Staubsturm“ beklagt der simbabwische Theologe und Performancekünstler Chirikure Chirikure:

 
Zitator 1 Chirikure Chirikure
Ein Staubsturm, der die Verkabelungen aus den
Köpfen der Menschen reißt
Den Speer vom Feind weg auf den eigenen
Bruder richtet (.)
Den Menschen Geld unter die Nase hält und viele
zu Teufeln macht. (18)

Autorin
Die in dem Band versammelten Künstler, Wissenschaftler und Intellektuellen aus 13 afrikanischen Staaten sind sich in der Diagnose einig. Zum Beispiel der Kameruner Achille Mbembe, einer der bedeutendsten postkolonialen Theoretiker der Gegenwart:

Zitator 2
Autoritäre Restauration hier, vorgetäuschte Mehrparteiensysteme da, anderswo magere, im Übrigen jederzeit reversible Fortschritte und nahezu überall ein sehr hohes Ausmaß an sozialer Gewalt, sogar Phänomene von Einkapselung, schwelenden Konflikten oder offenen Kriegen vor dem Hintergrund einer Extraktionsökonomie. Die ganz im Sinne der merkantilistisch-kolonialen Logik nach wie vor die Ausraubung begünstigt. (14/2)

Autorin
Mbembe analysiert, dass sich die Gesellschaften seit Mitte der 80er Jahre geradezu in Auflösung befinden, dass immer mehr Menschen ausgestoßen werden und sich in sozialen Kämpfen um die Ressourcen aufreiben müssen.  

Zitator 2
In der Perspektive des Kapitalismus, wie er in diesen Regionen der Welt funktioniert, sind komplett unbrauchbar, eine Masse menschlichen Fleisches…

Autorin
Auch Mbembes Landsmann Kum’a Ndumbe III, der afrikanische Prinz, Dichter und Gelehrte, schreibt, dass Afrika die Schlacht um die Unabhängigkeit verloren hat:

Zitator 1
Unseren Bevölkerungen wird mitgeteilt, was sie zu tun haben, aber die Entscheidungen und der Kurs werden an anderer Stelle festgelegt, nämlich in Gesprächen zwischen unseren Staatschefs und den Metropolen oder in den großen internationalen Organisationen wie der Weltbank und dem IWF etc. Wir werden daher in unseren eigenen Ländern als Geisel gehalten und zwar von Strukturen und Institutionen, die uns in unserem Elan bremsen, unsere Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen. (25/1)

Autorin
Kuma N’dumbe stellt zudem entlarvende Fragen: Warum wird in Afrikas Universitäten immer noch in den kolonialen Sprachen gelehrt? Oder warum hat Westafrika immer noch eine fremde Währung, 1884 eingeführt von der französischen Kolonialmacht?

Musik

Autorin
Eine wesentliche Ursache für die Stagnation, so die die afrikanischen Historiker, sei sei die Ermordung vieler kritischer Vorkämpfer für die Unabhängigkeit: Patrice Lumumba 1968 im Kongo, Sylvanus Olympio 1963 in Togo, Ernest Ouandié 1971 in Kamerun, Amilcar Cabral 1973 in Guinea, Thomas Sankara 1987 in Burkina Faso, dem „Land der aufrechten Leute“. Im Buch erinnern einige Reden dieser Befreier  an ihre Visionen von einer friedlichen, würdevollen und wohlhabenden Zukunft – Zeitdokumente einer hoffnungsvollen, begeisterten Epoche in Afrika. Diese Hoffnungen aber wurden von Beginn an von außen torpediert. Der Aktivist Tiécoura Traoré aus Mali stellt fest:

Zitator 2
Zur Verwirklichung ihrer Ziele setzten die einstigen Kolonisatoren und ihre afrikanischen Vollstrecker auf Gewaltverbrechen, Verfassungsmanipulationen sowie militärische und zivile Putsche und vergaßen dabei niemals, die Söhne derjenigen Präsidenten bevorzugt zu behandeln, die sich als kooperativ erwiesen hatten.

Musik

Autorin
Aber auch die intellektuelle afrikanische Elite habe ihren Teil zum Scheitern beigetragen, betont der senegalesische Zeithistoriker Ibrahima Thioub. Ein Beispiel: 1945 gründete sich in West- und Zentralafrika die politischen Bewegung Rassemblement Démocatique Africain, RDA. Obwohl die Kolonialherren ihre angebliche Überlegenheit auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges verloren hatten, wünschten sich die Mitglieder der RDA immer noch die Assimilation. So konnten die Franzosen stets ausgewählte Untertanen in ihr Herrschaftssystem kooptieren. Die Vertreter des RDA wollten die gleichen Freiheiten, Schulen und den gleichen Lebensstandard wie die Franzosen. Sie forderten aber weder Autonomie noch Unabhängigkeit. Viele andere afrikanische Staaten übernahmen unkritisch die kolonialen Strukturen. Diese Fehler, so Thioub, dürften nicht wiederholt werden.

ZItator
Die Verankerung des RDA im Kolonialsystem – ohne über Alternativen nachzudenken, war eine Falle, aus der sich zu befreien bis heute schwer fällt. (.) Heute ist eine der größten Herausforderungen Afrikas, eine neue Entwicklung in Gang zu bringen. Das Problem ist, dass man dies wieder auf der Basis der vom Kolonialismus ererbten Strukturen versucht, mit demselben Staatsmodell, derselben Befehlsstruktur und demselben Zwang. (99)

Autorin
Afrika muss sich aus diesen uralten Zwängen lösen und seine eigene Geschichte behaupten.

Aussichten und Prognosen

Zitator 2:
„Dir
Prince und Professor Kum’a Ndumbe III
Widmen wir diesen Band.
Zur Würdigung deines Lebenswerks,
das uns inspiriert, herausfordert, überfordert,
umtreibt, bewegt – und Hoffnung macht.

Auf dass wir alle – Afrikaner / innen und
Europäer / innen – eines Tages wieder
Aufrechten Hauptes gehen, und wieder
In die Augen sehen können und endlich
Unsere EINE gemeinsame Zukunft gestalten.“

… schreiben die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von AfricAvenir International in dem Band „50 Jahre Unabhängigkeiten…“ nDer Kameruner Kum’a Ndumbe – gebürtig in einer Familie, die Widerstand gegen die deutsche Kolonisation leistete, Wissenschaftler, Schriftsteller und vor allem Brückenbauer zwischen den Welten, hat die Stiftung vor 30 Jahren gegründet. Ein Dutzend junger Leute organisiert – größtenteils ehrenamtlich –  Filme, Lesungen  Vorträge – so auch im letzen Jahr, in dem 17 afrikanische Länder den 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit feierten. Das Buch dokumentiert teilweise die Vortragsreihe in Berlin im letzten Jahr, ergänzt durch Texte herausragender afrikanischer Autoren und Autorinnen.  

Zitator 1
Afrika weint noch immer,
unsere Tränen fließen
zu viele Politiker heutzutage
versagen. (.)

Aber ich weiß,
wir Afrikaner
auch wenn wir müde sind,
wir sind weiterhin auf dem richtigen Weg
und wir glauben daran, dass wir es schaffen.
(88)

Autorin:
Didier Awadi, Rapper aus dem Senegal und Ikone der westafrikanischen Jugend, macht Mut und ruft zu Aktivitäten auf. An anderer Stelle singt er: Selbstbestimmung ist unbezahlbar, man bekommt sie nicht geschenkt. Seit Mitte der 90er Jahre bündelt sich das neue Selbstbewusstsein im Konzept der „afrikanischen Renaissance“. Eine jüngere, stolze Politikergeneration ist an die Macht gekommen. Der 77 Jahre alte Philosoph Eboussi Boulaga plädiert denn auch für die „Dekolonisierung“ des Denkens.

Zitator 2
Es ist sehr bequem für uns, die Schuld für all das, was in unserem Land passiert, dem Kolonialismus zuzuschieben. (.) Das macht uns letzten Endes zu ewigen Opfern, die unfähig sind, ihrer Umwelt Herr zu werden und diese zu verändern. (223/2)

Autorin
Dabei geht der Hegel-Kenner, der auch in den USA lehrte, dialektisch vor. Nicht nur der Knecht, auch der Herr müsse sich von seinem kriegerischen Denken befreien, zum Beispiel von der Bush-Doktrin: „Unser Lebensstandard ist nicht verhandelbar.“ Das sei nur Krieg mit anderen Mitteln, sagt Eboussi Boulaga:

Zitator 2
Daher ist der einzige Weg zur Freiheit wahrscheinlich, gemeinsam frei zu sein, der Herr und der Knecht zur selben Zeit. Ansonsten werden sie weiter aneinander gebunden sein (.) im Krieg aller gegen alle. (224)

Autorin
Zentrale Denkmuster müssen dekonstruiert werden, so Boulaga, einer der wichtigsten Denker Afrikas. Identitäten zum Beispiel waren Produkt der Kolonisation und sind wandelbar.

Zitator 2
Ein weit verbreiteter intellektueller Irrtum von uns bestand darin, unsere Identität in eine Art dauerhafte Substanz umzuwandeln, die durch die Geschichte verzerrt wurde oder verloren ging und die in ihrer Authentizität wiedergefunden werden muss.
(224/2)

Autorin
Dabei gebe es doch gar keinen Zweifel an der Identität, wenn jeder von sich wisse, wie er rede, singe oder tanze. Die Industriestaaten propagieren ihr Allheilmittel: Entwicklung

Zitator 2
Wenn wir diesen Begriff akzeptieren, sind wir verloren.

Autorin
Entwicklung sei nur eine weitere Ideologie, mit der Europa den Rest der Welt bekehren wolle. Doch Afrika muss sich auf seine eigenen, auch traditionellen Werte besinnen, diese durchleben, um sie dann modernisieren zu können. Ein positives Beispiel sieht  Eboussi Boulaga in der Gründung einer neuen, unabhängigen Universität in seinem Land Kamerun, unabhängig vom Regime und der reichen Elite.

Zitator 2
Vor allem Autarkie und Eigenständigkeit sollten als Gegenmittel zu Privilegien, Monopolen, Profitgier und einer Bettlermentalität als Wert hochgehalten werden. (229/1)
Musikakzent

Autorin
Kein Zweifel, ein halbes Jahrhundert nach den formalen Unabhängigkeiten afrikanischer Staaten ist eine „zweiten Etappe der Befreiung“ angebrochen. Die Perspektiven sind vielfältig, wie auch Beiträge über die afrikanische Filmindustrie und über afrikanisches Design eindrucksvoll dokumentieren.
Und der senegalesische Künstler Mansour Ciss schlägt die Schaffung einer neuen Währung vor: Den Afro. Das real-utopische Projekt, so der Urheber, sei ein Symbol für den Willen zur „ökonomischen Befreiung des Kontinents“.

Der radikale Gewerkschaftsaktivist Tiécoura Traoré, der sich gegen die  Privatisierung der Bahn in Mali einsetzt, sieht Chancen für einen Veränderung durch den Zusammenschluss der afrikanischen Zivilgesellschaften. Sie sollten für den Schutz von Menschenrechten und Gemeingütern kämpfen; für die öffentlichen Dienste bei Transport, Bildung und Gesundheit

Zitator 1
Daher ist internationale Solidarität vonnöten, d.h. dass die Kämpfe, die in einem bestimmten Land gegen den Liberalismus und seine Ausformungen geführt werden, in den jeweiligen Nachbarländern Widerhall (.) finden müssen. (122/2)

Autorin:
Prophetische Worte? Achille Mbembe aus Kamerun fordert einen kontinentalen „New Deal“ zwischen „den internationalen Mächten“ des Nordens und Afrika: eine finanzielle Umlage für den Wiederaufbau des Kontinents, die auch Sanktionsmechanismen für verbrecherische Regime vorsieht. Und so panafrikanisch wie Mbembe denken die meisten in diesem Buch versammelten Afrikaner. Die Vorstellung von den „Vereinigte Staaten von Afrika“ mit föderaler Zentralregierung hat neue Aktualität gewonnen. Aber nicht als Kopie Europas oder der USA, so Kum’a Ndumbe:

Zitator 2
Afrika braucht seine eigenen Konzepte (.). Dabei verfügen wir über genügend Genie, um dies Konzepte zu erstellen. (..) Lasst uns unsere Kultur des Palavers neu erfinden (.) Konzepte, die auf einen Konsens gründen, der den Afrikanern und ihrer Weltanschauung eigen ist. (30)

Autorin
Kum’a Ndumbe setzt seine Hoffnung auf die Jugend – und auf den Beistand der Unsterblichen. 1986 wandte er sich in einer Anrufung an Cheik Anta Diop, den legendären afrozentrischen Historiker, dessen Losung lautete: „Bewaffnet euch bis zu den Zähnen mit Wissen“.

Zitator 1
Du, der du Afrika, der Schwarzen Welt, der Menschheit das Beste deiner selbst gegeben hast, wie können wir dir die gebührende Ehre erweisen?
In den von dornigen Lianen durchwachsenen Wald hast du Schneisen geschlagen, hast die Weichen der Wissenschaft gelegt, hast Sümpfe voll fleischfressender Ungeheuer, dieser Geschichtsfälscher, durchstreift, auf der Suche nach den zur Wahrheit führenden Pfaden, (.) und liefest mit großen Schritten auf den Wegen des Lichtes, dieses Licht, dessen Fackel du uns nun vermachst, für uns, für die anderen, für die ganze Welt.
(147)

Autorin
Einen Schimmer dieses Lichtes findet man in dem Sammelband. Es wäre ihm sehr  zu wünschen, dass viel Leser sich an dem verheißungsvollen Leuchten erfreuen.

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