Offener Brief anlässlich des Afrikanisch-Europäischen Gipfels zu Migration in Valletta, Malta

Sehr geehrte Botschafterinnen und Botschafter,
sehr geehrte MedienvertreterInnen,
sehr geehrte Damen und Herren,

dieser Brief richtet sich an die in Deutschland vertretenen Botschafterinnen und Botschafter jener afrikanischen Länder, die beim Afrikanisch-Europäischen Gipfel zu Migration in Valletta vertreten sein werden. nDarüber hinaus möchten wir auch die europäische Öffentlichkeit und somit die europäische Politik adressieren. Denn als transnationales Netzwerk mit Mitgliedsgruppen in mehreren afrikanischen und europäischen Ländern befürchten wir, dass die Europäische Union in Valletta versuchen wird, ihre eigenen Interessen einmal mehr rücksichtlos durchzusetzen – auch unter Rückgriff auf ihre schiere ökonomische Überlegenheit. nDies legen nicht nur die bislang bekannt gewordenen Entwürfe zur Abschlussdeklaration und einem damit korrespondierenden Aktionsplan nahe. Vielmehr ist aus Verhandlungskreisen auch zu hören, dass die EU äußerst kompromisslos vorgeht. So berichtet ein hochrangiger Vertreter der Afrikanischen Union gegenüber dem Mediendienst "Afroonline", dass es in den bisherigen Vorgesprächen keinen wirklichen Dialog gegeben habe: n"Was wir seitens der EU zu sehen bekommen, ist ein Monolog, der darauf abzielt, uns ihre Agenda aufzuzwingen." nIn diesem Sinne möchten wir die afrikanischen Regierungen aufrufen, in Valletta keinen Lösungen zuzustimmen, die sich gegen die Interessen der afrikanischen Bevölkerungen richten, zu der im Übrigen auch jene Geflüchteten und MigrantInnen zählen, die sich auf dem Weg nach Europa befinden bzw. die in Europa bereits angekommen sind. Konkreter: Die afrikanischen Länder sollten der europäischen Devise eine Absage erteilen, wonach es in Valletta vor allem darum ginge, irreguläre Migration einzudämmen, einschließlich der Bereitschaft, umfassende Abschiebeabkommen mit Europa zu unterzeichnen. nEntsprechend ist auch jeder Versuch abzulehnen, Entwicklungshilfezahlungen von der Durchführung migrationspolitischer Maßnahmen abhängig zu machen (das so genannte "mehr für mehr"-Prinzip). Vielmehr ist eine Politik anzustreben, die die grundlegenden Rechte von MigrantInnen und Geflüchteten achtet, insbesondere in den Transitländern Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko, und die dies zudem mit einer langfristig angelegten Entwicklungsstrategie verbindet, die auf einen wirtschaftlichen Aufschwung zugunsten der breiten Bevölkerungsmehrheit in Afrika setzt.

Was ist in Valletta genau geplant? Beim afrikanisch-europäischen Regierungsgipfel werden 4.000 TeilnehmerInnen erwartet, darunter die Staatschefs aus 35 afrikanischen und 28 europäischen Ländern. Mit dem Gipfel soll nicht nur an den Migrations- und Mobilitätsgipfel angeschlossen werden, der im April 2014 in Brüssel stattgefunden hat. nVielmehr sollen auch die bisherigen Ergebnisse des 2006 begonnenen Rabat-Prozesses sowie des seit 2014 laufenden Khartoum-Prozesses aufgegriffen werden. Beide Prozesse sind maßgeblich der Migrationskontrolle gewidmet, wobei beim Khartoum-Prozess auch mit diktatorischen Regimen wie in Eritrea oder Sudan verhandelt wird. Offiziell sollen in Valletta fünf Handlungsfelder zur Sprache kommen: Die Bekämpfung von Fluchtursachen, legale Migration und Mobilität, internationaler Schutz und Asyl, die Bekämpfung von Menschenschmuggel und -handel sowie Fortschritte bei Rückführung und Rückübernahme. nAuffällig ist indessen, dass die Europäische Union keinerlei Bereitschaft signalisiert, von einer Politik Abstand zu nehmen, die durch knallharte Interessenorientierung immer wieder jene Fluchtursachen schafft, die angeblich "bekämpft" werden sollen. nBeispielsweise hat die EU erst jüngst gefordert, dass die seit Jahren hochgradig umstrittenen EPA-Freihandelsabkommen ("Economic Partnership Agreements") von den afrikanischen Ländern bis 2017 ratifiziert werden sollten. Diese sehen für 80 Prozent aller Produkte aus der EU den Wegfall von Zollschranken vor, obwohl dies den Verdrängungswettbewerb für afrikanische ProduzentInnen enorm verschärfen wird, ganz zu schweigen davon, dass die Staatshaushalte vieler Länder in Afrika zwingend auf die entsprechenden Zolleinnahmen angewiesen sind. nÄhnlich verhält es sich in weiteren Bereichen, beispielsweise bei der Verdrängung landwirtschaftlicher Produkte durch EU-Billigexporte, bei dem von der EU gezielt geförderten Verkauf afrikanischer Böden an internationale Investoren (Stichwort Landgrabbing) oder bei dem Umstand, dass Afrika pro Jahr bis zu 20 Milliarden Euro durch legale und illegale Steuertricks internationaler Konzerne verloren gehen.

Angesichts dieser Ausgangslage möchten wir an Sie, die afrikanischen Regierungen, appellieren, beim Gipfel in Valletta Flagge zu zeigen und nur solchen Beschlüssen zuzustimmen, die tatsächlich geeignet sind, die Situation ihrer BürgerInnen nachhaltig zu verbessern:

+++ Sagen Sie Nein! zu jeder Form der Abschottungspolitik an den Außengrenzen der EU, die die Geflüchteten und MigrantInnen gezielt auf gefährliche Land- und Seerouten zwingt und mit immer brutaleren militärischen Mitteln an der Einreise in die EU zu hindern versucht (wie zum Beispiel im Rahmen der Operation EUNAFVOR vor der libyschen Küste). Jährlich tausende Tote aus Afrika sind eine fürchterliche Tragödie, auch für die betroffenen Familien, FreundInnen und Nachbarschaften. Der weiteren Externalisierung und somit Entledigung des Flüchtlingsschutzes durch die EU ist daher entschieden entgegenzutreten. Riesige Auffanglager, wie sie nunmehr im Niger entstehen sollen, können das Problem nicht lösen. Vielmehr sind katastrophale Verhältnisse zu befürchten, so wie das derzeit in den so genannten Hotspots auf Lampedusa, auf der griechischen Insel Lesbos oder an der serbischen Grenze zu beobachten ist – im Übrigen auch deshalb, weil der Niger in ökonomischer Hinsicht das ärmste Land der Welt ist. In diesem Zusammenhang möchten wir auch an die nordafrikanischen Länder appellieren, ihre Gendarmenrolle zugunsten der Europäischen Union aufzugeben. Die fürchterlichen Szenen an den Zäunen von Melilla und Ceuta oder Abschiebungen in die Wüste treten die Idee innerafrikanischer Solidarität mit Füßen. Und gleiches gilt auch für die dramatischen Erfahrungen mit dem inzwischen geschlossenen Lager Choucha an der tunesisch-libyschen Grenze (2011-2014).

+++ Sagen Sie Nein! zu jeder Form erzwungener Rückführungen aus Nordafrika oder Europa – unterschreiben Sie keine Rückübernahmeabkommen oder Verträge über die Anerkennung eines EU-Passierscheins ("laisser passer"). Die wirklichen Geber sind die MigrantInnen, die trotz ihrer zum Teil extrem prekären Situation mehr Geld nach Afrika überweisen als die gesamte Entwicklungshilfe der reichen Industrieländer ausmacht. Die bislang in Aussicht gestellte Verdoppelung der Visaerteilungen unter anderem an afrikanische Studierende ist lächerlich und stellt keine Antwort auf die wirklichen Ausbildungs- und Arbeitsbedürfnisse afrikanischer MigrantInnen dar. 

+++ Sagen Sie Nein! zu den multimedialen Abschreckungskampagnen, die die EU in verschiedenen afrikanischen Ländern durchführen möchte. Denn nicht nur die gefährlichen Fluchtrouten, sondern auch die von Entrechtung und Rassismus geprägte Situation in Europa sind kein. Vielmehr handelt es sich um das Ergebnis gezielter staatlicher Schikane- und Zermürbungspolitik sowie ökonomischer Ausbeutung, was ebenfalls klar und deutlich kritisiert werden muss. In diesem Zusammenhang ist auch der zynischen, ja rassistischen Unterscheidung zwischen gut ausgebildeten und daher willkommenen Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien und nicht-willkommenen Armutsflüchtlingen aus Afrika die rote Karte zu erteilen. 

+++ Sagen Sie Nein! zur Ratifizierung der EPA-Freihandelsabkommen und zu allen weiteren, von der EU erzwungenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, wie zum Beispiel verschuldungsbedingte Privatisierungen oder Steuerbefreiungen für internationale Investoren. In diesem Kontext ist auch der anlässlich des Gipfels in Valletta von der EU bereitgestellte Nothilfe-Treuhandfonds von 1,8 Mrd. Euro als bloße Augenwischerei zurückzuweisen. Denn mit dem winzigen Fonds soll nicht – wie offiziell behauptet – die Lage in der Sahelzone, in der Tschadseeregion, am Horn von Afrika und in Nordafrika stabilisiert werden (was mit dieser Summe auch gar nicht ginge). Vielmehr soll auch hier die irreguläre Migration mit sicherheitspolitischen Maßnahmen bekämpft werden.

+++ Sagen Sie Nein! zu all jenen Verhaltensweisen wie Korruption, Klientelismus und schlechte Regierungsführung, mit der afrikanische Regierungen selber zur Verschärfung der Dauerkrisen in Afrika beitragen. In diesem Sinne ist seitens afrikanischer Institutionen wie der AU oder der ECOWAS auch gezielt Druck auf autokratische und gewalttätige Regime wie in Eritrea, Sudan oder Burundi auszuüben, deren Politik bereits zur Flucht hundertausender Menschen geführt hat.

Schließlich möchten wir an Sie, die in Valletta vertretenen afrikanischen Regierungen, appellieren, dieses vielfache Nein mit einem starken Ja zu verbinden: Einem Ja, das einerseits auf Solidarität und fairen Interessenausgleich zwischen Afrika und Europa zielt (unter systematischer Berücksichtigung der historischen Verantwortung Europas für die langfristigen Auswirkungen von Sklaverei, Kolonialismus und Klimawandel), andererseits auf die Verwirklichung von Bewegungsfreiheit als einem unverbrüchlichen Menschenrecht. Es ist daher auch mit Nachdruck auf die Unmöglichkeit hinzuweisen, Migration und Mobilität zu kontrollieren oder gar zu stoppen. Stattdessen sollte hervorgehoben werden, dass die einzige wirksame Alternative zu Abschottung und Abschiebung in der freien bzw. zirkulären Migration besteht, wie sie in allen Regionen Afrikas bereits seit Jahrzehnten, zum Teil auch seit Jahrhunderten kulturell tief verankert ist. 

Mit freundlichen Grüßen,

Afrique-Europe-Interact

P.S. Anlässlich des Gipfels in Valletta wird die malische Sektion von Afrique-Europe-Interact am Dienstag, den 10.11.2015, in Bamako eine Pressekonferenz durchführen. nDownload-Version des Briefs in deutsch

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